München war lange Zeit die Wiege der europäischen Graffiti-Szene. Unser Autor hat früher selbst gesprayt und blickt heute mit einem Münchner Künstler auf ein ganz besonderes Werk.
Am Giesinger Berg, ganz oben zwischen Kirche und Grünwalder Stadion, exakt dort, wo die Steigung aufhört und Radfahrer endlich durchschnaufen können, kann man eines der spektakulärsten Wandbilder der Stadt bewundern. Auf das kastenähnliche Gebäude der Stadtwerke München malte der Münchner Künstler „Won“ alias Markus Müller 2019 eines der intensivsten Kapitel der Stadtgeschichte.
Beginnen müssen wir aber erst einmal in den frühen Achtzigern: An der Dachauer Straße, gleich hinter dem Leonrodplatz, gab es ein Areal, auf dem ein riesiger Flohmarkt stattfand, in den umliegenden Hallen stapelten windige Trödelhändler allerlei Zeugs, es gab Proberäume für Bands und zwei Veranstaltungshallen. Ein junger Ort, wo sich jeder austoben konnte. Der Künstler „Iove“, bürgerlich Gerhard Drach, der auf dem Areal wohnte, organisierte irgendwie, dass eine Gruppe Kids legal die Hallen anmalen durfte. Zu diesen Kids gehörten „Loomit“, „Cowboy“, „Cemnoz“ – und ich. Die Hallen waren ein Paradies, und sehr schnell wurden die Einheimischen auf unsere Bilder aufmerksam.
Mir fiel damals einer aus der Clique besonders auf: „Won“. Er malte anders als jeder von uns, hatte einen sehr eigenen Stil und eine eigene Technik. Wir lernten uns kennen, sprachen öfter mal, aber haben nie ein Bild zusammen gemalt, bis heute nicht.
Am Flohmarkt konnten wir legal malen, das machten wir – zugegeben – genauso gerne wie illegal die Münchener S-Bahn zu besprühen. In den Jahren 1985 bis 1988 boomte Graffiti in München so sehr, das Sprayer aus der ganzen Welt herkamen, um wenigstens einmal in München gemalt zu haben. Das Mekka hieß New York, klar, die Außenstellen Amsterdam und München. Berlin, Barcelona? Fehlanzeige. Paris und London waren noch interessant, aber in München, da konnte man eben die Züge bemalen, es waren hunderte.
In den Jahren 1985 bis 1988 boomte Graffiti in München so sehr, das Sprayer aus der ganzen Welt herkamen, um wenigstens einmal in München gemalt zu haben.
Natürlich hatte „Won“ auch hier Besonderes zu bieten, etwa eine Fake-Werbung für Sexhotlines mit der Nummer der Bahnpolizei. In München herrschte pure Anarchie, als jugendliche Sprüher hatten wir die Stadt im Griff. Dann wurden wir erwachsen, die Lust am Sprayen blieb, aber wir hatten keine Lust mehr, uns mit der Bahn anzulegen.
„Wons“ Bild in Giesing ist auf einer ausgewiesenen Freifläche der Stadt entstanden. Für das Material und die Arbeit gaben das Kulturreferat und die Straßenstiftung der Stadtsparkasse München insgesamt 28.000 Euro aus. Das Bild ist dreifarbig dominiert. Pink, Blau und Braun, in vielen Schattierungen.
Die Farbwahl erschließt sich aus dem Thema: Hier wird das 100-jährige Jubiläum der bayerischen Revolution gefeiert. Sie sind alle dabei, Kurt Eisner, der den König mit einem Fußtritt aus dem Bild befördert, Sarah Sonja Lerch-Rabinowitz (die für das Frauenwahlrecht kämpfte), Erich Mühsam, Gustav Landauer und Ernst Toller. Die erste Riege der Räterepublik, bestehend aus pazifistischen Anarchisten, die einen relativ gewaltfreien Umsturz in Bayern herbeigeführt haben.
Die Gruppe dieser revolutionären Menschen besteht aus realistischen Porträts, aber die Körper sämtlicher Personen sind – Häuser. Ein Thema, das sich im Werk von „Won“ wiederholt, er spielt mit dem Motiv der Stadtarchitektur. Die Dargestellten wirken dadurch wie Schachfiguren oder Steampunk-Roboter. „Wons“ Häusermotive orientieren sich also auch an den Blütezeiten der Großstädte der Moderne.
Eingeweihte erkennen die Botschaft, normale Betrachter sind hingerissen ob der schieren Größe und Wirkung des Wandbildes.
Im Kontext erschließt sich auch die Farbwahl: Rosa steht für das freiheitliche Gedankengut, Pazifismus und die Idee der anarchistischen Demokratie, Blau für die junge Republik, und Braun für die Kriegsschuld am ersten Weltkrieg, den Nationalismus und den aufkeimenden Faschismus. Die Nazis hatten in München ein leichtes Spiel mit ihrer Propaganda, sie beschuldigten die Räte als Kommunisten und bedienten mit der jüdischen Herkunft der fünf Revolutionäre antisemitische Ressentiments.
Als ich mich circa 1987 an der Kunstakademie bewarb, saß Markus eines Tages auch im Mappentermin. Einige Wochen lang besuchten wir diese Vorstellungstermine, und beim dritten gemeinsamen Termin hatte Markus eine Leinwand dabei, nicht groß, aber so beeindruckend, dass ich meine Sachen zusammengepackt habe und gegangen bin. „Won“ wurde dann Meisterschüler bei Robin Page, ich habe noch einen Anlauf bei anderen Professoren gemacht, aber geklappt hat es dann doch nicht. Ich machte eine Lehre als Schriftsetzer. Manchmal habe ich „Won“ besucht und war beeindruckt, wie verblüffend einfach er Themen umsetzen konnte, erst später begann er mit der gezielten Verklausulierung seiner Bilder.
Die Sache mit der Akademie hat uns aber nicht geschadet, ich besuche ihn auch heute noch gern im Atelier, und hier bekomme ich auch die Vorskizzen zu der Giesinger Wand zu sehen. Noch besser war für ihn, dass die Wand nur 100 Meter von seinem Atelier entfernt ist, sodass er sein Material einfach mit einem Wagerl hinbringen konnte.
Wenn es aber einen wie „Won“ gibt, der auf solchen Ausmaßen handwerkliche Oberklasse und intensivste Auseinandersetzung mit der bayerischen Geschichte verbinden kann, dann sollte man allein dafür eine Anfahrt in Kauf nehmen.
Die eingereichte Vorskizze ist relativ klein, nicht einmal A2, deshalb bin ich mir nicht sicher, ob die Entscheider über Wandbemalung in der Stadtverwaltung sehen konnten, was für ein kritisches Werk entstehen sollte. „Won“ ist bekennender Anarchist, sagt er, aber er bevorzugt die pazifistische Version. Deshalb gefällt es ihm auch so gut, Graffitikünstler zu sein, denn das Subversive, das liegt ihm. Eingeweihte erkennen die Botschaft, normale Betrachter sind hingerissen ob der schieren Größe und Wirkung des Wandbildes.
Nach einer gemeinsamen Betrachtung sitzen wir bei einem Bier in einer Kneipe nebenan und geben uns dem „was wäre wenn“ hin. Was, wenn die Utopie funktioniert hätte? Gleiche Rechte für alle, eine starke Arbeiterklasse, ein Sozialismus nach Kant oder sogar echte Anarchie, im positiven Sinne? Aber auch im Gespräch taucht die braune Wolke auf, die so viele Errungenschaften zunichte macht, die Zeiten sind unruhig und die Zeichen wieder an der Wand.
Im Bild sind die braunen Figuren klein, aber giftig wie Gremlins, dafür heben sich zwei große Hände im Hintergrund, die die Räte am Schlafittchen packen wollen. Das Unheil, es ist längst da. Toller hält ein Peace-Zeichen, das wie ein Donut dekoriert ist, in die Höhe, Goebbels wird ihn schon früh zum Staatsfeind erklären.
Lerch-Rabinowitz entlässt aus einem Käfig in ihrem Hauskörper einen ganzen Schwarm Friedenstauben (ein Thema, das Toller in seinem Stück „Das Schwalbenbuch“ aufgreift), während weiter hinten schon die Frauenkirche im braunen Schutt versinkt. Der Freistaat Bayern, der so heißt, weil er „frei von der Monarchie, der herrschenden Klasse“ war, er wird immer noch so tituliert. „Won“ verzichtete bei seinem Bild auf die weiß-blauen Rauten, den Löwen, also die einfachen Codes für Bavaria, dieses Bild muss erschlossen werden, man sollte sich Zeit nehmen, es zu betrachten. Gegenüber von der Wand ist der Grünspitz, eine kleine erschlossene Brache mit Bänken und Stühlen, da kann man es schon aushalten.
Street Art, Graffiti? Muss nicht immer so starke Aussagen haben, es gibt viele Wände, die einfach nur schön sind. Wenn es aber einen wie „Won“ gibt, der auf solchen Ausmaßen handwerkliche Oberklasse und intensivste Auseinandersetzung mit der bayerischen Geschichte verbinden kann, dann sollte man allein dafür eine Anfahrt in Kauf nehmen.
Über den Autor: Sven Katmando Christ hat sich neben der Graffitikunst noch einer anderen Leidenschaft zugewandt: Er arbeitet als Koch und Foodstylist und ist ein erfolgreicher Angler.