Die Dichte an Kneipen mit Kickertisch im Hinterzimmer ist im Schlachthofviertel und rund um die Isar besonders groß. Wir kickern uns einen Abend lang durch einschlägige Kneipen der Stadt. Und lernen Demut.
Am Ende werden mir ein geniales Tor gelungen sein und ein Foto, und zwar ganz ohne Kamera. In fünf oder sechs Partien. Oder waren es noch mehr? Wobei, Moment, ganz am Anfang des ersten Spiels gegen die beiden Endvierziger Robin und George sieht es eigentlich sehr gut aus, ich verfehle nach flinken Pass-Kaskaden meiner Sturmreihe mehrfach nur knapp das Tor, und Robin tut sich sichtlich schwer, an meinen Reihen vorbeizukommen, wenn er im Ballbesitz ist.
Sieh an. Kurz vorher hatte ich hier in der Südstadt in der Thalkirchner Straße noch vom anderen Tisch herübergeäugt, auf der Suche nach würdigeren Gegnern als den beiden netten, übermotivierten Studenten, denen ich gerade zum dritten Mal leichter Hand ihre Grenzen aufzeigte. Ach, Anfänger.
Jetzt also Robin, sichtlich ein ganz anderes Kaliber. Nach weiteren ein, zwei Minuten beginne ich zu zweifeln, das sah aus der Ferne vorhin irgendwie dynamischer, gekonnter aus. Und steht Robin da wirklich mit überkreuzten Beinen nicht doch etwas arg entspannt am Tisch?
Frage: „Du machst noch nicht wirklich ernst, oder?“ Freundliches Lächeln, leicht gönnerhaftes Glucksen von Kumpel George, niederschmetternd klare Antwort: „Nein.“ – „Verstehe, aber mach doch mal richtig“, höre ich mich todesmutig sagen. Und dann nimmt die Lehrstunde ihren Lauf.
Wobei „Lehrstunde“ irgendwie noch viel zu sehr so klingt, als hätte ich Land gesehen. Habe ich nicht. Es war eine Demonstration. Und das geniale Tor sah auch nur so aus. Wir hatten Partner getauscht, Robin war jetzt in meiner Verteidigung, und ich bat darum, einmal gezeigt zu bekommen, wie man von Reihe zu Reihe passt.
Ich musste meine Stürmer dafür an der linken Bande parken und leicht nach vorne kippen, und dort landete dann wie von Zauberhand plötzlich punktgenau der Ball, den ich dann in einer natürlich viel zu hektischen, aber trotzdem zufällig präzisen Bewegung auf das Tor lenkte, wo er an Georges Torwart vorbei zackig einschlug. Großes Hallo.
Ähem, und danke George. Selten jemanden gesehen, der so glaubwürdig unabsichtlich absichtlich einen durchließ.
Kickerkneipen in München: Behaglichst angerempelte, studentische Boazn mit Flaschenbier und Punkmusik, in denen zu vorgerückter Stunde die Wände anfangen zu schwitzen.
Wirklich ernsthaft betreiben die Sache in München, so Robin, vielleicht dreißig bis vierzig Menschen. Erstaunlicherweise haben sich die meisten Kickerkneipen rund um das Schlachthofviertel angesiedelt. In der Isarvorstadt zwischen Isar und Theresienwiese befinden sich jedenfalls mit der Südstadt und mit dem Flex in der Ringseisstraße zwei der Münchner Tempel dieses Sports.
Beides behaglichst angerempelte, studentische Boazn mit Flaschenbier und Punkmusik, in denen zu vorgerückter Stunde die Wände anfangen zu schwitzen. An beiden Orten ist die Wahrscheinlichkeit groß, auf Leute zu treffen, bei denen Kickern nicht wie Flippern aussieht, sondern eben wie eine fast surreal präzise Stop-and-go-Hochgeschwindigkeitskunst.
Allein der Blick darauf, wie sie filigran geübt den Stangengriff zwischen Handgelenk und Handfläche bewegen, lässt staunen. Dass diese Kneipen übrigens so häufig im Schlachthofviertel angesiedelt sind, ist kein Wunder: Kaum ein Viertel ist so bunt, so gesellig und hat gleichzeitig so eine hohe Boazn-Dichte mit dem ganz eigenen Charme des Hemdsärmeligen.
Um sich eine Vorstellung zu machen, was es heißt, wirklich Kickern zu können: Wenn ein Könner auf einen Nichtkönner (der schon lange kein Anfänger mehr sein muss) trifft, wird letzterer schon nach wenigen Sekunden nicht mehr wissen, wie ihm geschieht, wenn der Könner ernst macht. Anders gesagt: Der Nichtkönner wird selbst im Normalfall und absichtlich nicht nur kein einziges eigenes Tor erzielen, er wird auch die Tore, die er kassiert, gar nicht sehen können.
Wer „zu null“ verliert, also selbst kein Tor erzielt und 6:0 untergeht, der muss zur Strafe traditionell unter dem Tisch hindurchkriechen.
Es geht bei diesem Spiel, wenn es richtig gespielt wird, alles einfach viel zu schnell. Und zwar so schnell, dass für ein ungeübtes Auge selbst die Zeitlupe keine Aufklärung bedeutet. Man mache die Probe und sehe sich auf Youtube etwa eine Partie von Thomas Haas an, dem dominierenden deutschen Spieler und – mit großem Abstand – derzeitigen Weltranglistenersten.
Wahr ist dementsprechend auch, dass das, was man meistens in der Kneipe tut, mit Tischfußball im fortgeschrittenen Sinn wenig zu tun hat. Es ist eher eine Art Hin- und Herbollern einer kleinen weißen Kugel, eher Glücksspiel als Sport.
Im Duell mit den Profis dürften gewöhnlich zu selbstbewusste Kneipendilettant*innen schon an der allerersten offiziellen Regel scheitern: Beim Anstoß wird der Ball nämlich eigentlich nicht durch das Loch eingerollt. Wer Anstoß hat, legt ihn vor die zentrale Figur seiner mittleren Fünferreihe. Von dort darf dann aber auch nicht einfach sofort die offene Feldschlacht begonnen werden, der Ball muss vielmehr zwei Mal transferiert werden, also zwischen zwei eigenen Figuren hin- und hergespielt werden.
Nichtprofis wird er dabei umgehend von den Füßchen rutschen und zu einer gegnerischen Figur rollen. Seufz.
Wie man seinerseits Leute leicht erkennt, die wirklich wissen, was sie da tun am Tisch? Vielleicht sogar schon, bevor man vorgeführt wird? Nun, es kann gut sein, dass es die Einzigen sind, die kein Helles, sondern Wasser in ihren Halbegläsern haben. Ganz sicher kann man aber sein, wenn in ihrer Nähe eine Flasche Pronto-Polierspray steht, mit dem dafür gesorgt wird, dass die Stangen widerstandsfrei hin- und hergleiten.
Apropos Foto: „Foto“ wird ein Tor genannt, bei dem ein Spieler seine Sturmreihe so geschickt bewegt, dass eine der Figuren vom Gegenpart, der versucht aus seiner Verteidigung herauszuspielen, vom Ball getroffen wird, der daraufhin ins Tor rollt, ohne vom Angreifer absichtsvoll gespielt worden zu sein. Klack-klack. Mir „gelang“ das Foto, als George den Ball an meiner Sturmreihe, mit der ich ihn mit verblüffter Verzweiflung zu blocken versuchte, allzu eilig und brachial vorbeiknallen wollte. Ha. Noch mal großes Hallo. Passierte ihm aber natürlich nur einmal, klar.
Immerhin hätte es mir im Ernstfall einen unangenehmen Stunt erspart. Wer „zu null“ verliert, also selbst kein Tor erzielt und 6:0 untergeht, der muss zur Strafe traditionell unter dem Tisch hindurchkriechen.
Sieht man inzwischen allerdings nur noch selten und dann weniger als Strafe denn als Ehrensache, sagt Robin, und erzählt mit amüsierter Anerkennung von einem stadtbekannten Spieler, der im Falle des Falles immer noch grundsätzlich darauf bestehe zu kriechen. Nach ein paar weiteren Demonstrationen schien es mir – als Respektsbekundung gegenüber dem Spiel und Strafe für meinen alten Hochmut – dann aber auch irgendwie angemessen.
Alle, die es versuchen wollen, seien aber gewarnt: Es ist viel weniger Platz unter so einem Kickertisch, als man vermutet, außerdem neigt der Boden insbesondere zu späterer Stunde doch arg dazu, heftig zu kleben – und die Unterkanten sind verflucht scharf.