Singen macht glücklich, doch immer weniger Menschen tun es. Warum nur? Bei der Aktion „Singen unterm Christbaum“ bringt die Stadt München in der Vorweihnachtszeit spontan Menschen zusammen, die singen.
Die Neuhauser Straße an einem Dezembernachmittag ist nicht unbedingt ein Ort der Besinnlichkeit. Auf den Buden des Christkindlmarkts und in den Schaufenstern leuchten unzählige kleine Lichter. Doch die meisten Menschen hasten nur von Geschäft zu Geschäft oder wollen einfach schnell nach Hause, haben Termine und Erledigungen vor sich. Sie frösteln, ziehen ihre Schultern und die Schals hoch.
Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für meinen Plan: Ich möchte echte Adventsstimmung erleben und das bedeutet vor allem: mit anderen Menschen singen. Denn nur wenig macht glücklicher als ein gemeinsames Lied auf den Lippen, heißt es. Studien besagen, beim Singen werden Glückshormone wie Serotonin ausgeschüttet, Noradrenalin und Endorphine, beim Singen entspannt man, atmet durch, bekommt den Kopf frei.
Um das auszuprobieren, frage ich ein paar wildfremde Menschen auf der Straße, ob sie mit mir singen wollen. Doch die meisten, die ich anspreche, wollen nicht singend glücklich werden oder Spaß haben: Sie wollen keine stille Nacht, sie wollen weiter. Einige erschrecken sichtlich, als ich sie aus ihren Gedanken reiße und einen Chor vorschlage. Andere winken einfach ab, wieder andere machen gleich einen Bogen um mich, beschleunigen den Schritt und eilen davon. Ob sie wissen, was ihnen entgeht?
Dabei könnte alles so einfach sein, erklärt Traudi Siferlinger. „Wer sprechen kann, der kann auch singen.“ Punkt.
Zwei Tage später, ganz in der Nähe. Auf dem Vorplatz der Michaelskirche zeigen die Geübten, wie man die Menschen zum Singen bringt. Gleich neben dem traditionellen Kripperlmarkt steht eine kleine Bühne. Davor eine große Menschentraube. Ein paar junge, viele ältere Menschen. „Um die 500 werden das heute schon sein“, sagt die Musikerin und Moderatorin Traudi Siferlinger sichtlich zufrieden. Denn alle sind gekommen, um zu singen.
Mit ihrer Kollegin Monika Drasch und dem Akkordeonspieler Hansi Zeller steht Traudi Siferlinger an vier Mittwochen im Advent hier auf der Bühne. Gemeinsam bringen sie den Menschen Weihnachtslieder bei, immer ab 16.30 Uhr, immer eine halbe Stunde lang. „Singen unterm Christbaum“ heißt die Aktion. Und dabei geht es eben nicht darum, mit dem Textbuch in der Hand einfach zuzuhören, während auf der Bühne vorgetragen wird.
Die Musikerinnen singen nur vor, arbeiten sich mit der Menge in der Fußgängerzone Zeile für Zeile voran, nehmen die Hobbysänger an die Hand. „Mögt’s ihr’s probier’n“, fragt Monika Drasch. Und irgendwann ist es so weit und der spontane Chor schmettert den Jubel von „Tochter Zion“ in den Abend. Zugegeben: Nicht an allen Stellen klingt es astrein, aber trotzdem schön. „Beim Singen geht von den Menschen eine unglaubliche Energie aus“, sagt Traudi Siferlinger. „Wenn sie zusammenkommen und in der Gruppe gemeinsam singen, dann stützen sie sich gegenseitig und haben miteinander Freude.“ Vor allem aber entstünden ganz besondere Schwingungen zwischen den Menschen – „und das spüren sie“.
Denn das gemeinsame Singen ist vor allem ein Gemeinschaftserlebnis. Ohne miteinander zu sprechen, kann man einen intensiven Austausch erleben, gibt etwas von sich preis und nimmt die Menschen neben sich intensiv wahr. Es ist eine andere Art der Kommunikation, die hier für wenige Augenblicke möglich wird.
Und irgendwann ist es so weit und der spontane Chor schmettert den Jubel von „Tochter Zion“ in den Abend. Zugegeben: Nicht an allen Stellen klingt es astrein, aber trotzdem schön.
Natürlich tauschen wir uns den ganzen Tag über aus, senden und empfangen Nachrichten und eilen durch den Alltag. Aber auch, wer jemand anderem eine Nachricht schickt, sitze dabei ja oft genug allein auf dem Sofa. Um so wichtiger sei es, „dass die Menschen sich auch einmal auf den Weg machen und zusammenkommen“, sagt Siferlinger.
Damit auch wirklich alle kommen und mitsingen können, wird ein großer Aufwand betrieben. Der Platz vor der Michaelskirche ist komplett barrierefrei. Eine Gebärdensprachdolmetscherin leitet Gehörlose an, für Hörgeschädigte liegen mobile Induktionsschleifen bereit, und die Texthefte, die alle bekommen, gibt es auch in Groß- und Blindenschrift.
Viele haben sich extra auf den Weg gemacht, um hier dabei zu sein. Doch auch ein paar Passanten und Passantinnen unterbrechen spontan ihre Betriebsamkeit, bleiben stehen, folgen ihrer Neugier und lassen sich begeistern. Der entscheidende Moment ist dabei wahrscheinlich genau der Augenblick, wenn die letzte Strophe eines Liedes verklungen ist. Dann herrscht einen winzigen Moment eine Stille, die von einem erhabenen Gefühl angefüllt wird.
Ich frage mich: Ist das Glück? Auf jeden Fall bereitet es mir großes Wohlbefinden.
Ich erinnere mich, wie wir als Kinder irgendwie immer gesungen haben. Aber irgendwann zwischen Grundschule und Pubertät, verlieren wir plötzlich das Zutrauen in die eigene Stimme. Und wer als Erwachsener den ganzen Tag singt, läuft ab einem gewissen Alter Gefahr, als verhaltensoriginell zu gelten. Dazu kommt, dass in immer weniger Familien daheim noch musiziert wird.
Dabei könnte alles so einfach sein, erklärt Traudi Siferlinger. „Wer sprechen kann, der kann auch singen.“ Punkt. Man muss es einfach tun – sei es hier in der Fußgängerzone, sei es im Sportverein oder im Wirtshaus. Und ich merke: In der Gruppe trauen sich Einzelne viel eher zu singen. Mir fällt es am Ende jedenfalls überhaupt nicht mehr schwer.
Die aktuellen Termine von „Singen unterm Christbaum“ finden Sie hier!