Carolin Engelhardt, die Gründerin und Creative Director „Münchner Dirndl“-Manufaktur, sitzt auf einer Treppe.

Arbeitsbesuch: Carolin Engelhardt

In der Dirndlschneiderei

Gut sechs Millionen Menschen besuchen im Schnitt jedes Jahr das Münchner Oktoberfest. Und alle möchten eingekleidet werden. Aber wie entsteht eigentlich ein Dirndl? Und worauf muss man bei einem neuen Design achten? Wir haben Carolin Engelhardt, Gründerin und kreativer Kopf hinter „Münchner Dirndl“, für einen Tag bei der Arbeit begleitet.

„Ich sage immer gerne, dass ich eine One-Man-Show bin.“ Es ist elf Uhr morgens, als Carolin Engelhardt die Tür zu „Münchner Dirndl“ im Herzen Schwabings aufschließt. „Bis auf die Buchhaltung kümmere ich mich hier in meinem Showroom um alles allein.“ Der Start in den Arbeitstag findet bei ihr, wie bei fast allen kreativen Menschen, nicht immer zur gleichen Zeit statt. „Ich hatte schon Kundinnen morgens um sieben Uhr vor der Tür stehen, andere um neun Uhr abends“, erzählt sie, während sie die Lichter anknipst. Was bei Engelhardt besonders ist: Man kann ihre Dirndl nicht online kaufen, sondern muss auf ihrer Website einen Termin in ihrem Showroom vereinbaren. „Es gibt so viele Faktoren, die beeinflussen können, ob ein Dirndl sitzt“, erklärt sie. „Wenn man es falsch zuhakelt, die falsche Bluse oder den falschen BH drunter anzieht. Mit diesen persönlichen Sitzungen kann das vermieden werden.“

Die Wiesn ist ein jährlicher Höhepunkt

Wir befinden uns in Woche eins des Oktoberfests. Das bedeutet, dass Engelhardt momentan an keinem neuen Design arbeitet, sondern vor allem ihre aktuellen Modelle an Wiesnbesucherinnen verkauft. Inspiration für eine neue Dirndlfarbe lauert für sie trotzdem überall. Zum Beispiel in der Natur: „Wenn ich wandern gehe und Blumenfarben sehe, möchte ich am liebsten gleich eine neue Farbe herausbringen. Aber eigentlich bewege ich mich in den klassischen Trachtentönen, die man immer noch weiter optimieren kann: Blau, Rosa und Grün. In diesen Tönen finde ich einen unglaublich großen Spielraum.“

Es kann eine Inspiration sein, die von Blüten ausgeht, mit der sie sich dann in ihr Atelier zurückzieht. Hier sind Farb- und Stoffproben an eine Pinnwand gehängt, Farbkarten liegen aufgefächert da, eine Nähmaschine mit Borten steht unter dem Fenster. Engelhardt zeigt uns eine Farbkarte mit Schattierungen von Grün. „Aktuell bin ich im Gespräch mit Lodenfrey, ob wir einen mutigen Schritt machen und auf ein Mai- oder Knallgrün setzen sollen“, erzählt sie. Lodenfrey, eine alteingesessene Münchner Modemarke und DAS Fachgeschäft für Tracht, ist zu einem von Carolins größten Kunden geworden. Ihre Designs, besonders die Kinderdirndl und das einzigartig bedruckte „Münchner Dirndl“, sind dort ein Dauerbrenner.

Video: Carolin Engelhardt – Viertelbotschafterin Schwabing

Endloses Blau

In Tirol werden ihre Farbideen zum Leben erweckt. Dort hat Engelhardt einen Partner, der die Stoffe für sie nach ihren Wünschen einfärbt. „Dieses Taupe ist beispielsweise der erste Farbton, den ich selbst kreiert habe.“ Sie weist auf einen pastelligen Erdton. „Und dieser Vergissmeinnichtton war der zweite.“ Wirft man einen Blick auf die Kleiderstangen im hinteren Teil des Raums, merkt man: Blau ist Engelhardts Lieblings-Dirndlfarbe. „Ich bin ein Blaufan – ich habe schon sieben Blautöne und muss mich zurückhalten, nicht noch den achten Blauton zu entwickeln.“

Der Schnitt ist das eigentliche Geheimnis

Nach der Inspiration kommt der technische Teil – der Schnitt, der laut Engelhardt wichtigste Teil des Prozesses. „Man braucht einen Grundschnitt, auf den man sich bei den Designs stützen kann. Meinen habe ich mit einer Schneiderin aus Nürnberg entwickelt, die eine Koryphäe im Trachtenbereich ist.“ Sie zeigt uns eines dieser Schnittmuster: meterlange Papierrollen, auf die kleinteilig die genauen Angaben für das Dirndl geschrieben sind. Warum das Papier so lang ist? „Weil wir so viel Stoff für den Rock verwenden – daran erkennt man, welche Qualität unsere Dirndl haben, allein die Stoffmenge ist immens.“

Den Schnitt zu perfektionieren, dauere Monate, erklärt Engelhardt. „Und wenn es nach mir gehen würde, würde dieser Prozess auch nie enden.“ Sie zeigt uns fünf hochgeschlossene Dirndl, die für das ungeübte Auge identisch aussehen. „Das sind die Prototypen unseres Schalkragen-Dirndls.“ All diese Modelle habe es gebraucht, um zu dem aktuellen Schnitt zu kommen, erklärt Engelhardt. Sie weist auf das zweite Dirndl auf der Stange: „Hier wollte ich zum Beispiel, dass man den Kragen als Steh- und als Faltkragen tragen kann. Beim nächsten Modell war der Kragen jedoch zu hoch und so weiter. So durchläuft das Dirndl alle diese Stadien.“

Ein gutes Dirndl ist individuell

Oft ist der Moment, wenn man das Dirndl an der Kundin sieht, entscheidend, sagt sie. „Da bemerke ich winzige Details. Sollte ich den Knopf nicht doch einen Zentimeter weiter nach unten oder nach oben setzen? So etwas bemerkst du tatsächlich erst, wenn ein echter Mensch mit einem echten Körper in dem Dirndl steckt.“ Ihr Schnitt sei jedoch so konzipiert, dass 50 Prozent der Kundinnen in den Laden kommen und das Dirndl so mitnehmen, ohne dass es geändert werden müsse, sagt Engelhardt. „Das ist schon mal ein großer Erfolg. Bei den anderen muss man eine Anpassung machen. Aber das ist bei meinen Dirndln ganz einfach: Meine Seitennaht ist extra so konzipiert, dass man darüber die perfekte Anpassung machen kann.“

Einen solchen Termin hat Engelhardt am Nachmittag. Es klingelt, und eine junge Frau aus Chicago betritt den Showroom. Sie kommt direkt vom Flughafen, damit sie sich ein Dirndl bei Engelhardt für die Wiesn kaufen kann. Engelhardt steckt das Dirndl ab, empfiehlt einen Balconette-BH und tauscht die Bluse aus, bis beide Frauen sich im Spiegel anlächeln. Über Instagram sei die Amerikanerin auf Engelhardt aufmerksam geworden – „and had to have one of her pieces“, sagt sie. Als die Kundin den Laden verlässt, heißt es für Engelhardt – auf zur Schneiderin. Kleinere Anpassungen macht sie selbst in ihrem Showroom, aber größere lässt sie machen. Mit ihren Dirndln im Radlkorb verabschiedet sie sich – die Wiesn ist noch nicht vorbei, und die Amerikanerin ist nicht die letzte Frau, die noch dringend ein „Münchner Dirndl“ braucht.

 

Text: Nansen & Piccard; Fotos: Frank Stolle
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