Bergsteigen, Skifahren, Freeriden – der Freizeitwert des Münchner Umlands ist legendär. Doch wer hätte gedacht, dass es weniger als zwei Fahrstunden von der bayerischen Hauptstadt entfernt für so viele Outdoor-Sportarten tatsächlich Superlativ-Ziele gibt – die teils sogar mit historischen Rekorden auftrumpfen können.
Die Steinerne Rinne im Wilden Kaiser
Im Wilden Kaiser wurden Meilensteine der alpinen Klettergeschichte realisiert. Kein Wunder: Die massiven Kalkwände ein paar Kilometer hinter der bayerischtirolerischen Grenze, reichen an Schwierigkeiten, Ausgesetztheit und Höhe durchaus an die vom Bildschirmschoner bekannten Big-Walls im Yosemite-Nationalpark in den USA heran.
Die Touren von Hans Dülfer aus den Pionierjahren Anfang des 20. Jahrhunderts – etwa 1913 durch die Westwand des Totenkirchls oder die sogenannten „Alte Ostwand“ der Fleischbank von 1912, trotz Nagelschuhen, Hanfseilen und sehr begrenzten Sicherungsmöglichkeiten eine der ersten alpinen Klettereien im modernen Sinn überhaupt – flößen auch heutigen Kletterern noch Respekt ein. Will man das Wilde am Wilder Kaiser auf den Punkt bringen, sollte man die Steinerne Rinne betreten, eine U-förmige Schlucht, die sich von der Griesner Alm hinauf zum Ellmauer Tor zieht, flankiert von der Westwand des Predigtstuhls und der Fleischbank Ostwand – dem „Eldorado des extremen Kletterns im Kaiser “, wie Markus Stadler in seinem Kletterführer „Wilder Kaiser“ schreibt.
Mit „Des Kaisers neue Kleider“ von 1994 findet sich ein Stück weiter rechts ein selten wiederholter Zehner von Stefan Glowacz, der auf mehreren Längen Topschwierigkeiten aneinanderreiht.
„An diesem zusammen mit dem Fleischbankpfeiler 800 m breiten und 200 bis 350 m hohen Bollwerk wurden seit der ersten Route 1912 durch Dülfer und Schaarschmidt immer wieder neue Maßstäbe für das Klettern im Alpenraum gesetzt. „Mehr als ein halbes Jahrhundert später, als besseres Material und eine neue Ethik den Klettersport revolutioniert und ihm einen neue Boom beschert haben, folgt der nächste Meilenstein: 1977 eröffnen Reinhard Karl und Helmut Kiene am Fleischbankpfeiler die „Pumprisse.“
Sie gilt als erste alpine Klettertour im siebten Schwierigkeitsgrad. Und mit „Des Kaisers neue Kleider“ von 1994 findet sich ein Stück weiter rechts ein selten wiederholter Zehner von Stefan Glowacz, der auf mehreren Längen Topschwierigkeiten aneinanderreiht – und bis heute eine der schwierigsten Mehrseillängentouren in den Alpen ist.
Selber erleben: Wer nicht selbst als Kletterer in die Touren einsteigen möchte, aber trittsicher in den Bergen unterwegs ist, nimmt den Eggersteig vom Stripsenjochhaus durch die Steinerne Rinne zum Ellmauer Tor – und wahlweise weiter bis auf den Gipfel der Hinteren Goinger Halt. Panorama-Alternative: von der Griesner Alm zum Stripsenjochhaus und die Tour über den Stripsenkopf und Feldberg bis zurück zur Latschenölbrennerei an der Griesner Alm – die Blicke in die Kaiserschluchten sind phänomenal.
Das Dammkar im Karwendel
„Wenn sich alle Skigebiete der Voralpen, ja selbst die Skiparadiese um Kitzbühel, am Arlberg, über Davos und Innsbruck längst in satt sprießende Blumenhalden verwandelt haben, Ende April und den ganzen Mai hindurch, zieht aus dem Geigenmacherdorf Mittenwald Sonntag für Sonntag ein merkwürdiger schwarzer langer Wurm von skitragenden Münchnern hinauf ins Dammkar“, schreibt Walter Pause 1961 in „Ski Heil“, seiner Sammlung der „100 schönsten Skiabfahrten in den Alpen“. Mehr als ein halbes Jahrhundert später werden kaum noch Skier das Dammkar hinaufgetragen.
Und die besten Tage im Dammkar finden sich im neuen Jahrtausend auch eher im Hochwinter als im Frühling, am besten nach einem satten Nordstau, der die bayerischen Alpen mit frischem, kaltem Pulverschnee versorgt hat. Und so lässt sich an der Geschichte des Dammkars die Entwicklung des Skitourismus im ganzen Alpenraum nachvollziehen. Nachdem in den 1950er- und 60er-Jahren eine Art unfreiwilliger Skitourenboom (es gab schlicht zu wenig Aufstiegshilfen) zur sonntäglichen Ausprägung des oben beschriebenen „Dammkarwurms“ geführt hatte, wurde 1967 die Karwendelbahn eröffnet, der einst mühsame Aufstieg zu einer achtminütigen Bergfahrt verkürzt – und die wilde Abfahrt durch das Dammkar zu einer mehr oder weniger gewöhnlichen Skipiste.
Die besten Tage im Dammkar finden sich im neuen Jahrtausend auch eher im Hochwinter als im Frühling, am besten nach einem satten Nordstau, der die bayerischen Alpen mit frischem, kaltem Pulverschnee versorgt hat.
Doch kurz vor der Jahrtausendwende war die Karwendelbahn nur mehr eine von sehr, sehr vielen Gondeln in den Nordalpen, dazu noch eine recht kleine. Und mit den Nacht für Nacht planierten, perfekt beschneiten Skischaukeln der Tiroler Gletschertäler konnte man schon lange nicht mehr mithalten – auch weil das Dammkar für die Verwandlung in eine perfekte Carving-Autobahn dann doch zu steil und der Aufwand zu groß war. Für ambitionierte Ski- und Snowboardfans erwies sich die Krise als Segen. Seit 1999 wird die Dammkarabfahrt nicht mehr präpariert, jedoch von der örtlichen Lawinenkommission mit Sprengungen entschärft.
Und so drängen sich die örtlichen und aus München angereisten Ski-Fans am ersten Tag, an dem es nach einem Schneefall freigegeben wird, heute wieder am Dammkar. Allerdings am oberen Ende, hinter dem Tunnelausgang, der den Weg von der Bergstation zu einer der ersten Freeride-Abfahrten der Alpen verkürzt – um möglichst als erste ihre Spuren in die 1200 Höhenmeter durch das obere Kar hinab bis zur Querfahrt und weiter durchs Kanonenrohr und den langen Ziehweg zurück ins Geigenmacherdorf zu schreiben.
Selber erleben: Den ersten Tag nach dem Schneefall zu erwischen, erfordert konstante Wetterrecherchen, Geduld und zeitliche Flexibilität. Doch die Abfahrt ist auch ein paar Tage später ein Erlebnis. Also: Einfach die Bahn nehmen und durch den Tunnel marschieren. Die Lawinenkommission gewährleistet, dass man nicht verschüttet wird. Den Rest sollte man als guter, mit der üblichen Sicherheitsausrüstung ausgestatteter Skifahrer oder Snowboarder eigentlich hinbekommen.
Der Walchensee
Dem oberbayerischen Windsurfen, das in den vergangenen zehn Jahren mehr und mehr vom oberbayerischen Kitesurfen – beide nicht zu verwechseln mit dem Münchner Eisbachsurfen – ersetzt wurde, bieten sich in der schönsten Wassersportzeit oft ernüchternde Bedingungen. Wenn im Hochsommer das Wetter besonders sonnig ist, liegt meist eine bleierne Flaute über den großen Seen des Voralpenlandes. Es ist dies die Stunde des Walchensees: gerade bei stabiler Hochdrucklage, wenn die Nächte unter sternenklarem Himmel abkühlen, und die Sonne von morgens an für bestes Badewetter sorgt, bildet sich zwischen Jochberg und Herzogstand eine lokale Thermik aus, welche die kühle Talluft vom Kochelsee hinaufsaugt – und zu kräftigem Wind auf dem Walchensee führt, verstärkt noch durch den Düseneffekt der eng stehenden Berge.
Und während an Ammer-, Wörth- oder Chiemsee die Luftmatratzen in der Augusthitze dümpeln, füllt sich der Walchensee mit bunten Schwärmen von Segeln und Schirmen, wie man es in der Intensität nur vom ebenfalls thermisch angetriebenen, oberitalienischen Gardasee kennt. Die Szene unterscheidet verschiedene Zonen: von der Schweinebucht bei Sachenbach, wo die Thermik am Vormittag zuerst einsetzt, über die „Galerie“, deren wenige Parkbuchten an den guten Tagen bis zum letzten Meter von den Wohnmobilen der Walchensee-Fans besetzt sind, bis zur großen Wiese nicht weit von der Herzogstandbahn.
Stimmen die Bedingungen, können die Zuschauer von der durchgeglittenen Halse der treuen Windsurfer bis zu wilden Flugversuchen der jungen Kiter das ganze Spektrum der Manöver jener Wassersportler betrachten, die man gemeinhin eher an den Küsten vermutet – und nicht auf einem Bergsee in den bayerischen Voralpen.
Selber erleben: Wer die Walchenseedüse erleben will, sollte auf Wetterseiten auf Hinweise auf eine „Blauthermik“ über den bayerischen Alpen achten. Man kann natürlich auch auf gut Glück starten: Setzt an einem heißen Sommertag dann doch nicht jene Thermik ein, die die glatte Wasseroberfläche von Norden kommend langsam aufwühlt, geht man eben baden. Oder unternimmt eine Wanderung rund um den Herzogstand. Und Windsurfausrüstung? Kann man in Walchensee im Windsurfcenter mieten.
Der Tegelberg
Als Geburtsstunde des Drachenfliegens als Freizeitsport in Europa gilt der Flug des Amerikaners Mike Harker vom höchsten Berg Deutschlands, der Zugspitze, im April 1973. Was vorher allenfalls für Tüftler zugänglich war oder sich als Zuschauersportart mit Wurzeln in Australien und Kalifornien bei kuriosen Flugshows bewundern ließ, entwickelte innerhalb von wenigen Jahren eine starke Dynamik – wie sie in diesen Zeiten auch bei anderen Freizeitsportarten, bei denen sich der Mensch nach eigener Lust und Laune selbstbestimmt durch die Elemente bewegt, zu beobachten war.
Überall in den Alpen gründeten junge Flugpioniere die ersten Drachenflugschulen, und innerhalb weniger Jahre entwickelte sich eine lebendige Szene. Als eines der beliebtesten Flugreviere erwies sich schnell der Tegelberg, auf den seit den späten 1960er-Jahren eine Bergbahn führt – und vor dessen „Gelber Wand“ sich außergewöhnliche Aufwinde entwickeln. In der Sprache der Flieger heißt es: „Der Tegelberg ist eine typische Nordseite, wobei die Bärte hier genauer abgegrenzt und recht kräftig sein können.“
Um die Aufwinde zu erreichen, die am Tegelberg meist erst gegen Mittag einsetzen, fliegen die Drachen auf die Leeseite des Berges, an thermischen Tagen also auf die Südseite, wo sie sich dann bis hinauf an die Wolkenunterkante schrauben.
Um diese Aufwinde zu erreichen, die am Tegelberg meist erst gegen Mittag einsetzen, fliegen die Drachen auf die Leeseite des Berges, an thermischen Tagen also auf die Südseite, wo sie sich dann bis hinauf an die Wolkenunterkante schrauben. Oder, wie Flugbegeisterte sagen: „Auf diese Weise kommen sie recht schnell an die Basis.“ Für Gleitschirme, die ein halbes Menschenleben nach jenem historischen Drachenflug von der Zugspitze, den Drachen als verbreitetes Hobbyfluggerät ersetzt haben, ist es schwieriger, die spezifischen Flugverhältnisse oberhalb des Forggensees zu nutzen.
Natürlich wurde auch der Luftraum über den Königsschlössern noch voller und bunter. Dennoch scheint sich der Tegelberg als Heimat der Drachenflieger zu erhalten. Bis heute finden hier zahlreiche Drachenflugmeisterschaften statt. Den interessierten Beobacht*innen bieten sich also Möglichkeiten, die eleganten Hängegleiter zu beobachten, die in den meisten Fluggebieten der Alpen immer seltener zu sehen sind. Doch der Rummel in der Luft ist so oder so ein spektakulärer Anblick, auch wenn man sich persönlich nicht für Bärte interessiert.
Selber erleben: Schönes Flugwetter ist auch schönes Wanderwetter. An den Startplätzen am Tegelberg lässt sich der Rummel rund um den Start herrlich bei einer Brotzeit verfolgen – etwa nach einer Wanderung mit Blick auf die Königsschlösser Neuschwanstein und Hohenschwangau (und vor dem landschaftlich abwechslungsreichen Abstieg durch die Bleckenau). Von der Tegelbergbahn aus bietet sich die entspannte „Königsrunde“ an. Wer wirklich wissen will, was die Flugverhältnisse am Tegelberg so besonders macht, bucht einen Tandemflug mit dem Gleitschirm mit Blick in den Schlosshof von Neuschwanstein bei einer der Flugschulen in Schwangau.
Die Watzmann-Ostwand
Steigen wir Berg oder wandern wir noch? Oder handelt es sich womöglich bereits um Kletterei? Historisch sind die Grenzen fließend, ging es doch früher in erster Linie darum, überhaupt auf einen Berg hinaufzukommen – natürlich gerne auf die spektakulärste Weise. Das zeigt sich auch im Sprachgebrauch: Kletterer sprechen bis heute von der „Begehung“ einer Wand – und wo genau ein Hang aufhört und eine Wand anfängt, ist auch gar nicht so einfach zu definieren. Für den durchschnittlichen Wanderbegeisterten hat die Watzmann-Ostwand mit Bergsteigen nichts mehr zu tun.
Und der eine oder anderer Sportkletter-Fan würde eine „Begehung“ dieses Monstrums aus Kalk vielleicht eher als Bergsteigerei bezeichnen – bis er sich einmal hineingewagt hat in jene aufgesteilte Welt aus Wandfluchten und Stufen, Schotterbändern und Verschneidungen, deren 1800 Meter Höhenunterschied sie zu einer der höchsten, ja: Wänden der Alpen macht. Tatsächlich kommt nach der Monte-Rosa-Ostwand und der Eiger-Nordwand die Watzmann-Ostwand bereits auf Platz drei.
Der erste Durchstieg gelang im Jahr 1881 Johann Grill, auch genannt „der Kederbacher“. Die Wand wurde aber auch schon im Winter allein und nachts durchstiegen – von Hermann Buhl 1953.
Der erste Durchstieg gelang im Jahr 1881 Johann Grill, auch genannt „der Kederbacher“. Die Wand wurde aber auch schon im Winter allein und nachts durchstiegen – von Hermann Buhl 1953. Und der Bergführer Heinz Zembsch aus Berchtesgaden ist inzwischen mehr als 400 Mal durchgestiegen. Adi Stocker zählt in seinem Auswahlführer „Longlines“ 2800 Klettermeter – die Wand ist wie gesagt nicht ganz senkrecht.
Die tiefen Eindrücke, die sie bei Helma Schimke hinterlassen hat, deren Mann beim Versuch einer Winter-Durchsteigung ums Leben gekommen war und dessen Projekt sie später auf eigene Faust zu Ende brachte, dürfen bis heute gelten: „Herrgott, ist diese Wand schön! Wie still sie ist. Kein Stein fällt. Keine Dohle ist zu sehen. Man hat fast das Gefühl, da unten etwas vergessen zu haben. Bis man dann weiß: Es ist nur der Lärm.“
Selber erleben: Schifffahrt nach St. Bartholomä am Königssee. Und dann nach oben schauen – und sich mit dem letzten Schiff von den Ostwand-Aspiranten verabschieden, die als einzige Gäste das Recht haben, auf der Halbinsel Hirschau zu übernachten. Wer noch näher ran will: Wanderung zur sogenannten „Eiskapelle“ am Wandfuß, dem tiefstgelegenen Firneisfeld der Alpen, eine Art Minigletscher. Der Watzmann ist auch für Bergsteiger ein lohnendes Ziel – dann allerdings nicht durch die Ostwand, sondern über den Normalweg mit Übernachtung auf dem Watzmannhaus.