Eine Frau im Badeanzug steht auf dem Sprungturm während neben ihr ein Mann wartet

Sprungturm in der Olympia-Schwimmhalle

Höher? Tiefer!

Unsere Autorin blickt seit Jahren ehrfürchtig auf das 10-Meter-Brett in der Olympia-Schwimmhalle. Kann man seine lebenslange Angst vor Sprüngen ins Wasser aus großer Höhe überwinden? Anne-Celine Jaeger hat es mit Hilfe des Sprungtrainers Michael Kemenater am Olympia-Sprungturm in München versucht.

„Wie groß ist Ihre Angst genau?“, fragt mich der Wassersprung-Trainer Michael Kemenater. „Ein Sprung aus zehn Metern Höhe kann nämlich auf zwei Arten enden.“ Freundlicherweise fügt er seiner Mail zwei Videos an. Im ersten springt ein Anfänger vom 10-Meter-Brett, landet wunderschön und freut sich. Im zweiten überlegt ein anderer zu viel, macht einen Riesenfehler und verletzt sich beim Aufprall aufs Wasser so sehr, dass sein Bein blau anläuft.

Wie „groß“ ist meine Angst? Ich bin mir nicht sicher, wie ich die Frage beantworten soll. Wie misst man Angst? Ich schreibe zurück: „Meine Angst ist so groß, dass meine Kinder, die jetzt 9, 13 und 15 Jahre alt sind, in den vergangenen fünf Sommern erfolglos versucht haben, mich zu einem Sprung zu überreden. Wenn ich auf dem 3-Meter-Brett stehe, schauen sie mich liebevoll von unten aus dem Wasser an und sagen: ,Alles gut, Mama, du schaffst das. Wir glauben an dich.‘ Trotzdem gehe ich mit gesenktem Kopf und voller Scham die Leiter jedes Mal wieder runter, gelähmt vor Angst.“

Diese Angst befällt mein sonst eher unerschrockenes Wesen nur, wenn ich am Rand eines Sprungbretts stehe. Ich habe Nächte damit verbracht, mir vorzustellen, wie es ist, wenn ich es schaffe. Nächsten Sommer wird alles anders sein, rede ich mir ein. Aber es war noch nie anders.

Diese Angst befällt mein sonst eher unerschrockenes Wesen nur, wenn ich am Rand eines Sprungbretts stehe. Ich habe Nächte damit verbracht, mir vorzustellen, wie es ist, wenn ich es schaffe.

„Springen aus großer Höhe ist nichts, was man von einem Tag auf den anderen lernt“, fügt Kemenater freundlich hinzu, „vor allem nicht, wenn Angst im Spiel ist.“ Wir verabreden uns an einem Nachmittag im Olympiabad im Münchner Olympiapark, um zu sehen, ob es nicht vielleicht doch noch Hoffnung gibt für mich.

Das für die Olympischen Sommerspiele 1972 errichtete Schwimmbad wurde von Günter Behnisch entworfen und ist kein gewöhnliches Gemeinschaftsschwimmbad. Neben zahlreichen 50-Meter-Bahnen und Lehrschwimmbecken gibt es mehrere Sprungtürme (3, 5, 7 und 10 Meter hoch) und sieben Sprungbretter. Mit anderen Worten: Es ist der perfekte Ort, um das Unmögliche zu versuchen. Außerdem kenne ich das Schwimmbad gut, denn ich komme schon seit meiner Kindheit in den Achtzigern hierher, um zu schwimmen, mit Freunden auf der großen Liegewiese abzuhängen oder mit Jungs unter Wasser Kusshändchen zu spielen.

Kemenater begrüßt mich in Badehose am Beckenrand und nimmt sich viel Zeit, mich in die Physik des Turmspringens einzuweisen und zu erklären, warum es keine gute Idee ist, bei einem Sprung vom 10-Meter-Brett falsch zu landen. Es kann einiges schief gehen, wenn man mit 60 Stundenkilometern auf dem Wasser aufschlägt: Bänderrisse, Hämatome, Schläge ins Gesicht, Steißbeinbruch und so weiter. Es geht doch nichts über ein paar motivierende Informationen!

Zu meiner Erleichterung lässt mich Kemenater am Anfang erst mal vom Beckenrand ins Wasser springen. Juhu, das schaffe ich! Kein Problem. Es stellt sich dann aber sofort heraus, dass ich sogar das nicht richtig mache.

Zu meiner Erleichterung lässt mich Kemenater am Anfang erst mal vom Beckenrand ins Wasser springen. Juhu, das schaffe ich! Kein Problem. Es stellt sich dann aber sofort heraus, dass ich sogar das nicht richtig mache. Meine Füße sind in der falschen Position, sodass mir das Wasser in die Nase gepresst wird, außerdem habe ich keine Körperspannung. Als ich auftauche, guckt Kemenater irritiert. Es scheint ihm zu dämmern, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Er lotst mich aus dem Wasser und zeigt mir auf einer Bodenmatte, wie man richtig springt. Oje, ich muss wirklich ganz vorne anfangen. Na gut, diesmal will ich wirklich alles richtig machen und tue, was mir gesagt wird.

Nach der Demütigung auf der Matte üben wir eine halbe Stunde den Sprung vom 1-Meter-Brett. Das ist für mich eine akzeptable Höhe, aber ich mache es immer noch nicht richtig. Ich soll bei der Landung meine Füße als Blocker benutzen, um eine Luftblase zu erzeugen. Das verhindere, so der Lehrer, dass Wasser in meine Nase eindringt. „Kann ich mir nicht einfach die Nase zuhalten?“, frage ich. „Aus einem Meter Höhe geht das“, sagt Kemenater, „aber je höher du kommst, desto höher ist die Geschwindigkeit und desto größer ist die Gefahr, dass du das Gleichgewicht verlierst und dir die Hand beim Aufprall ins Gesicht schlägt.“ Hm. Ok! Als mir das Eintauchen irgendwann besser gelingt, schlägt er vor, dass ich aufs 3-Meter-Brett hochsteige. Ich schaue hinauf. Ist doch gar nicht so hoch. Das geht schon!

Die drei Meter sehen aus wie acht Meter, weil das Wasser unten so ruhig und spiegelglatt ist, dass meine Augen erst wieder am Boden des fünf Meter tiefen Beckens Halt finden.

Oben sieht dann natürlich alles ganz anders aus. Die Angst ist wieder da. Adrenalin schießt mir durch den Körper, mein Herzschlag erhöht sich und meine Beine zittern so stark, dass das Sprungbrett unter meinen Füßen wackelt. Verdammter Mist. Und los geht’s. „Ich wähle die Liebe. Ich wähle die Liebe“, sage ich zu mir selbst. Die Meditation namens „Angst loslassen“, die ich am Morgen absolviert habe, funktioniert jetzt offensichtlich nicht mehr. „Du kannst deine eigene Realität wählen. Du kannst die Angst wählen. Oder du kannst die Liebe wählen“, hatte die Stimme in der App hilfsbereit gesagt. Alles, was ich jetzt gerade in mir höre, ist Rauschen und eine laute Stimme, die sagt: „Nö, vergiss es, das wird nicht passieren.“

Die drei Meter sehen aus wie acht Meter, weil das Wasser unten so ruhig und spiegelglatt ist, dass meine Augen erst wieder am Boden des fünf Meter tiefen Beckens Halt finden. Kemenater liest meine Gedanken und erzeugt unten Spritzer, damit ich sehen kann, wo die Wasseroberfläche beginnt. Trotzdem erscheint es mir völlig unmöglich zu springen.

Meine Hände umklammern das Geländer. Meine Knöchel sind weiß. Ich kann die verdammte Brüstung nicht loslassen. Warum zum Teufel habe ich solche Angst? Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Gar nichts? Also spring, Frau, spring! Leider setzt mein Körper alle Rationalität außer Kraft. Zehn Kilometer in einem Fluss schwimmen? Drei Länder durchqueren und dabei meine eigenen Vorräte tragen? Keine Angst, kein Problem. Mache ich alles. Habe ich alles sogar schon gemacht. Warum nur macht es mir so unüberwindbare Angst, aus ein paar Metern Höhe ins Wasser zu springen?

Meine Hände umklammern das Geländer. Meine Knöchel sind weiß. Ich kann die verdammte Brüstung nicht loslassen. Warum zum Teufel habe ich solche Angst? Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Gar nichts?

Kemenater schlägt jetzt vor, auf die 10-Meter-Platform hochzugehen. So mache er es auch mit den Athlet*innen, um die er sich sonst kümmert, wenn die mal Angst haben. Die unteren Bretter sähen von oben schlagartig nicht mehr so hoch aus. Wir probieren es aus. Oben angekommen kann ich nicht einmal mehr runterschauen. Wie wahnsinnig muss man sein, um hier zu hinunterzuspringen?

Wie zum Teufel hat meine neunjährige Tochter das im vergangenen Sommer geschafft? Ihr Körper schwebte hinunter wie eine Feder und machte beim Eintauchen kaum einen Spritzer. Dann gehen wir runter zum Siebener, wo ich Kemenater anflehe, von der Kante wegzugehen, so besorgt bin ich, dass er versehentlich hinunterfallen und sich verletzen könnte. Dann runter zum Fünfer. Als wir beim 3-Meter-Brett ankommen, fühlt es sich tatsächlich weniger hoch an als vorhin. Aber mein Körper und mein Kopf sind sich nicht einig.

Am Beckenrand wartet Frank, der Fotograf, geduldig darauf, dass ich springe. Er hatte gehofft, mich beim Sprung vom 10-Meter-Brett fotografieren zu können. Haha. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Eine junge Mutter schaut mich mit freundlich an, als wäre ich ihr Kind. Ich möchte sie nicht enttäuschen. Neben mir weint ein Kind auf dem anderen 3-Meter-Brett und sagt immer wieder „Ich will nicht.“ Ich rufe Frank zu: „Siehst du das Kind? Das bin ich. Im Inneren.“ Der Junge ist bestenfalls vier Jahre alt. Ich halte mich immer noch am Geländer fest. Dann springt er. Nach dem Auftauchen schreit er: „Aua!“ Super Werbung.

Was ich in diesem Moment allerdings verstehe, ist, dass es kein Zurück mehr gibt. Mist. Ich fühle mich wieder genau wie damals als Zehnjährige im Schwimmbad.

Hinter mir sagt Kemenater irgendetwas, das ich nicht verstehe. Was ich in diesem Moment allerdings verstehe, ist, dass es kein Zurück mehr gibt. Mist. Ich fühle mich wieder genau wie damals als Zehnjährige im Schwimmbad. Die wartenden Kinder hinter mir feuern mich an. Damals ging es um die Ehre. Jetzt geht es darum, über meinen Schatten zu springen, sich dieser verdammten Angst zu stellen.

Ich sage zu Kemenater: „Wenn ich springe, kann ich nicht versprechen, dass ich kein Geräusch mache.“ Kein Problem für ihn. Ich soll einfach tun, was ich tun muss – und bevor ich es mir anders überlegen kann, lasse ich das Geländer los und trete ins Leere.

„Aaaaaaaaaahhhhhhhhhhhh …“ Ich schreie den ganzen Weg nach unten, als ob die ganze aufgestaute Angst auf einmal aus meinem Körper herausgestoßen wird. Ich bin so laut, dass alle, die in der Nähe des Pools stehen, klatschen, als ich auftauche. Ich steige aus dem Wasser und reiße die Arme nach oben, als hätte ich den Mount Everest bezwungen.

Ich bin so laut, dass alle, die in der Nähe des Pools stehen, klatschen, als ich auftauche. Ich steige aus dem Wasser und reiße die Arme nach oben, als hätte ich den Mount Everest bezwungen.

„Das Beste ist“, sagt Kemenater, „wenn du es gleich nochmal machst.“ Na gut. Wieder ist es nicht leise und auch nicht sehr elegant, aber das geht in Ordnung, es geht hier ja nicht um meine Würde. Der zweite Sprung fühlt sich tatsächlich etwas weniger beängstigend an als der erste. Ich glaube, man nennt das Konfrontationstherapie. „Willst du den Fünfer ausprobieren?“ In meinem Kopf höre ich die Stimme von Glennon Doyle, der Moderatorin des Podcasts „We Can Do Hard Things“. Sie sagte mal: „Mutig sein heißt nicht, Angst zu haben und es trotzdem zu tun. Mutig sein bedeutet, von innen heraus zu leben. Mutig sein bedeutet, sich in jedem unsicheren Moment nach innen wenden zu können, in sich zu fühlen, wonach einem ist und es laut auszusprechen.“

„Mir geht es gut“, sage ich, „das war ein Triumph. Alles weitere nächsten Sommer.“ Auf dem Heimweg schreibe ich meinem 15-Jährigen eine SMS: „Ich habe es geschafft, Bobby, ich bin vom 3-Meter-Brett gesprungen!“ Seine Antwort kommt sofort: „Ich bin so stolz auf dich, Mama.“ Das bin ich auch, mein Sohn, das bin ich auch.

 

 

Text: Anne-Celine Jaeger; Fotos: Frank Stolle
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