Wolfgang Hingerl und „Mogli “ Billersberger stehen vor einem Tor am Bauernhof.

Arbeitsbesuch: Wolfgang Hingerl

Vom Bauernhof auf den Teller

Vier Restaurants führt Wolfgang Hingerl in München, mit unterschiedlichen Küchen, aber einer Gemeinsamkeit: Die Produkte kommen beinahe ausschließlich aus der Region. Ein Arbeitstag im Leben eines Tausendsassas.

Kimchi könne man damit zubereiten. Aber natürlich auch ganz klassisch Sauerkraut, ein ganz hervorragendes sogar. Oder Rouladen! Auf einem Acker bei Ismaning werden riesenhafte Kohlköpfe auf einen Anhänger geschafft, stapeln sich schon meterhoch. Es sind absurde Gewächse, größer als Medizinbälle.

Wir fahren mit Wolfgang Hingerl im Auto Richtung Münchner Nordosten, verbringen einen Arbeitstag im Leben eines Gastronomen, der großen Wert darauf legt zu wissen, wo seine Ware herkommt. Die Morgensonne lässt die Landstraße im Münchner Nordosten schimmern, wo das Land ebener wird und gar nicht mehr an die Postkarten vom hügelig gestaffelten Voralpenland erinnert.

Hingerl hat bereits ausgiebig über die oberbayerische Haselnuss geschwärmt, was für hervorragende Pasten man daraus zubereiten könne. Und jetzt diese Krautköpfe, direkt vor unserer Windschutzscheibe. Ismaninger Kraut! Wächst nur hier, „es müsste eigentlich zum Weltkulturerbe erklärt werden“, schwärmt er.

Lager müssen jeden Tag gefüllt werden

Vier Restaurants betreibt Hingerl in München, da gilt es Tag für Tag, Lager zu checken, Waren zu verteilen, überall nach dem Rechten zu sehen. Oft genug springt der Gastronom auch in der Küche ein, wenn jemand ausfällt oder irgendwo die Hölle los ist.

Heute steht noch die Visite im Mural Farmhouse an, dem neuesten seiner Läden, in dem eine sehr produktfokussierte, regionale Hochküche angeboten wird. Diese ist besonders abhängig von exzellenten Grundprodukten. Allein das ist schon Grund genug, auf ein lokales Lieferantennetzwerk zurückzugreifen.

Das Ismaninger Kraut!  „Es müsste eigentlich zum Weltkulturerbe erklärt werden“, schwärmt Hingerl.

Denn einmal ganz davon abgesehen, dass er damit die regionalen Kreisläufe stärkt und persönlicher Kontakt möglich ist, hat er so tatsächlich die Chance, die Lebensmittel frisch vom Acker auf den Teller zu bringen und sich immer wieder aufs Neue vom reichhaltigen Angebot inspirieren zu lassen, das die besonders leidenschaftlichen Bäuerinnen und Bauern, Gärtnerinnen und Gärtner, Züchterinnen und Züchter sowie Veredlerinnen und Veredler im Münchner Umland produzieren. Einen dieser außergewöhnlichen Lieferanten möchten wir kennenlernen – und sind deshalb gemeinsam mit Hingerl auf dem Weg nach Forstinning, zum Biobauernhof von Amadé Billesberger.

 

Mehr als hundert Gemüsesorten

Die Einfahrt in den historischen Vierseithof bietet Platz für einen Vierspänner. Der holte früher das gemahlene Mehl ab, heute ruht die Mühle, dafür wachsen neben Getreide mehr als hundert Gemüsesorten auf den Feldern und in den Gärten rund um den Hof, außerdem leben hier um die 800 Hühner und eine Herde Schafe.

Billesberger, der von allen nur „Mogli“ genannt wird, betritt die Küche, an den Händen noch Spuren von der guten Erde, „rundkörnig“, wie er gleich erläutern wird, bedecke sie hier Tuffböden und Kalkgestein.

Bevor wir über den Hof streifen, tauschen sich Hingerl und Billesberger bei einem Cappuccino über Herausforderungen bei der Personalsuche aus, Arbeitszeiten in der Gastronomie und auf einem Bauernhof. Außerdem geht es kurz um die beste Kartoffelsorte für einen Kartoffelsalat. Spoiler: Es ist die Simonetta. Zumindest, wenn man einem Mann glaubt, in dessen Hofladen allein sieben Sorten aus der neuen Ernte verkauft werden. 

 

Bilderbuch-Bauernhof

Der Billesberger Hof erinnert an ein Wimmelbild aus einem reich illustrierten Kinderbuch. Auf der einen Seite werden gerade die Schafe auf die Weide getrieben, eine bukolische Wiesenlandschaft mit licht stehendem Mischwald. Zwischenrein platzt ein Azubi, der meldet, dass eins der Hühner – alles Zweinutzungshennen, die tagsüber vor ihren mobilen Ställen Wildkräuter picken oder im Sand am Ufer der Dorfen baden – ihm heute ungewöhnlich dünn vorkomme. Billesberger lässt es in den Krankenstall bringen.

Die beste Kartoffelsorte für einen Kartoffelsalat? Es ist die Simonetta.

Vor dem Haus stehen Salbeibüsche, häufen sich bunte Kürbisse in hölzernen Lagerkisten, die Bäume im Garten tragen schwere Quitten. Wir marschieren hinaus aufs Feld, wo Billesberger uns besondere Feldfrüchte zeigen will.

 

Alte Sorten bergen besondere Geschmäcker

Wie er darauf gekommen sei, alles auf Bio umzustellen, als er den Hof 2007 von seinem Vater übernahm? „Ich konnte mir das mit Gift und Spritzmitteln einfach nicht vorstellen, von Anfang an“, sagt er. „Ich ernähre mich seit Langem hauptsächlich von Gemüse. Da hatte ich auch keine Lust mehr, mir im Supermarkt die eingeschweißten Biosachen aus Spanien zu kaufen.“

Und so lernte Billesberger die fünfgliedrige Fruchtfolge, organisierte Samen und Setzlinge alter Sorten, es wurde immer mehr. „Für uns ist das natürlich auch interessant wegen des Geschmacks“, ergänzt Hingerl. Während heute in der konventionellen Landwirtschaft vor allem Hybride gezüchtet würden, mit Fokus auf Optik und Haltbarkeit, finde man in den alten Sorten eine völlig andere Aromatik.

Wir kommen kaum voran. Alle paar Meter pflückt Billesberger ein Blatt oder einen Stiel am Wegrand und fordert uns auf hineinzubeißen. Das erste schmeckt nach Senf. Ist es auch. Außerdem gibt es Ölrettichblüten und japanische Blütenkresse. Endlich hält er an einer Stelle, wo unscheinbare Stängel aus dem Acker ragen. Bevor er zieht, geht es noch kurz um die Unterschiede zwischen verschiedenen japanischen Süßkartoffelsorten, Aroma und Konsistenz.

Dann zieht er eine schmale lila Wurzel aus dem Boden, klopft sie ab und drückt sie uns in die Hände. Es ist eine Murasaki, reich an Antioxidantien, Noten von Maroni im Geschmack. Er gibt Hingerl zwei Arme davon mit. In einem seiner Restaurants werden sie in den nächsten Tagen die Gäste begeistern.

„In der Gastronomie ist manchmal zu viel Begeisterung im Spiel“, sagt Hingerl.

Billesbergers Mutter lädt uns zum Mittagessen ein, Gemüse aus dem Ofen. Ganz einfach, so dass man all die Zutaten von den Wiesen und Feldern rund um den Billesberger Hof schmeckt. Dann müssen wir aber wirklich los.

 

Zeit, Muße, Leidenschaft

Die nächste Station auf dem Weg zum Farmhouse ist Berg am Laim. „Weinfurore“ steht auf einem von außen unscheinbaren Lagerhaus. Innen wartet ein fein kuratiertes Sortiment aus Weinen. Frankreich, Deutschland, Österreich, klassisch und „low intervention“, wie Hingerl die gerade so modischen Naturweine gerne nennt. „Ein bisschen Südtirol haben wir auch“, erklärt Gerhard Biber, der Seniorchef. „Und in Osteuropa haben wir die Ohren offen.“

Mit seinem wichtigsten Weinlieferanten pflegt Hingerl eine freundschaftliche Beziehung, hier holt er sich regelmäßig Inspirationen, wenn die Zeit für eine Weinreise mal wieder nicht reicht. Und die Auffassung passt einfach zusammen. „Weniger Eingriffe, viel mehr Arbeit im Weinberg, bei Low-Intervention-Weinen ist es ein bisschen wie bei den Biobauern“, erläutert Hingerl. „Und bei den Bibers und mir kommt einfach einiges zusammen: Zeit, Muße und Leidenschaft, diesen Weg gemeinsam zu gehen.“

 

Wollt's was probieren?

Dazu komme Fachwissen. „In der Gastronomie ist manchmal zu viel Begeisterung im Spiel“, sagt Hingerl. Da würde manche Weinauswahl etwas überstürzt getroffen. „Bei den Bibers wird noch mal ganz anders nachverkostet. Hier ist man unglaublich präzise.“ Hingerl wiederum, ergänzt Biber, sei ein absoluter Vorreiter, was neue Weinstile betreffe, ohne solche Wirte könne man das entsprechende Sortiment ja gar nicht entwickeln … dann hält er verdutzt inne und blickt in die Runde, als würde ihm auf einmal auffallen, dass wir alle keine Hosen anhaben. „Wollt's was probieren?“

Der Nachmittag nimmt seinen Lauf bei einem Glas Riesling aus Deutschland. „Nierstein, Roter Hang. Eine der besten Lagen dort“, erklärt Biber. „Pettenthal, das Große Gewächs von Kühling-Gillot.“ Auch dieser Wein erfüllt strenge Biokriterien, von einem Naturwein, trüb und mit mostigen Noten, kann man hier allerdings nicht sprechen. Ganz klar ist er im Glas, der Dreiklang aus Nase, Gaumen und Finish sehr dicht, große Show. „Er hat ein bissl Reife, drei Jahre, das tut ihm gut“, sagt Biber. „2020 war ja ein bisschen üppiger …“, ergänzt Hingerl.

Vom Produkt zum Kunstwerk

So könnte man natürlich lange weitermachen. Aber Hingerl wollte ja noch im Farmhouse vorbeischauen. Einmal durch die Stadt also, nach Obersendling. Freundschaftlich grüßt er jeden und jede im Restaurant. Wir folgen ihm in die Küche, wo gerade Saiblinge filetiert und Frühlingszwiebeln gehackt werden, Teig per Hand durch eine Nudelmaschine gedreht wird. Fasziniert beobachten wir die Kochprofis, wie sie gerade all das, was Hingerl heranschafft, in kleine Kunstwerke verwandeln. Auf einem mehlierten Blech sammeln sich bereits fertige Tortellini.

Wir lassen Hingerl weiterarbeiten, fast hat er seine Begleiter ohnehin schon vergessen, wie er da zwischen dem Team steht, glücklich und stolz, wie ein junger Zirkusdirektor, der es immer noch nicht wirklich glauben kann, dass diese Riesenshow jeden Abend aufs Neue erfolgreich über die Bühne geht.

 

 

Text: Nansen & Piccard, Fotos: Frank Stolle