Das Bahnhofsviertel ist der Schmelztiegel der Stadt: Türkische Supermärkte, indische Spezialitätenrestaurants und hippe Designbüros bestehen hier nebeneinander und zeigen: München ist nicht nur eine Weltstadt mit Herz, sondern auch eine Stadt von Welt. Die Künstlerin und Musikerin Polina Lapkovskaja zeigt uns ihr buntes Lieblingsviertel.
Die Paul-Heyse-Straße hat einen Charme, der sich vielleicht nicht jedem auf Anhieb erschließt. Zwischen Bahnhof und Theresienwiese gelegen, der Verkehr rauscht vierspurig vorbei, es regiert das Auto. „Es ist vielleicht nicht die allerschönste Straße in München“, sagt Polina Lapkovskaja. „Und doch ist es meine Straße. Ich liebe sie in ihrer Dysfunktionalität. Ich liebe das ganze Bahnhofsviertel, es ist einzigartig in München, und meiner Meinung nach einzigartig in ganz Deutschland.“
In München ist Lapkovskaja besser und sehr gut bekannt als Polly. Mit ihrer Band Pollyester macht sie seit 15 Jahren eine sehr verschwitzte, punkige und basslastige Form von Disko, daneben performt sie im Theater. Für Stücke am Maxim Gorki Theater in Berlin oder an den Münchner Kammerspielen komponiert sie Musik, was selten nur Musik ist, sondern oft auch eine Art rhythmisierte Sprache.
Lapkovskaja ist Universalkünstlerin, alle, die sie einmal gesehen haben, erinnern sich an sie, was auch an ihrem sehr eigenen Stil liegt. An diesem Samstag trägt sie eine Art Radlerhose und darüber einen knallbunten Regenmantel. Gewitterwolken hängen tief und dräuend über der Stadt und von Lapkovskajas Wohnung aus scheinen sie zum Greifen nahe.
„Es ist vielleicht nicht die allerschönste Straße in München“, sagt Polina Lapkovskaja. „Und doch ist es meine Straße. Ich liebe sie in ihrer Dysfunktionalität. Ich liebe das ganze Bahnhofsviertel, es ist einzigartig in München, und meiner Meinung nach einzigartig in ganz Deutschland.“
Diese Wohnung würde man vielleicht in locker bebauten Gegenden von Berlin vermuten oder in hippen Metropolen Osteuropas, aber nicht unbedingt in München. Die Wohnung befindet sich in einem für das Viertel typischen Haus, erbaut in den 1950ern, vermutlich als Bürogebäude. Sie gleicht eher einem Labyrinth auf mehreren Stockwerken als einem klassischen Appartement.
Von einer Terrasse aus kann man auf die Dächer steigen, was Lapkovskaja gerne macht. Der Innenhof, auf den sie dann blickt, ist noch einmal so etwas wie eine Miniaturversion des äußerst vielgesichtigen Viertels: „Hier unten im Keller ist eine rumänisch-orthodoxe Kirche, da hört man sonntags immer einen sehr schönen Gesang heraus. Die Gottesdienste dauern sehr lang und nachher sieht man sehr viele herausgeputzte Menschen im Innenhof. Im Innenhof nebenan war bis vor kurzem auch der Kaschmir-Bazar, da gab es vor allem Lebensmittel vom afrikanischen Kontinent und sehr viele Haarpflegeprodukte.“
Und über all dem, hoch oben im dritten Stock, und mit einer riesigen Robinie als Schattenspender, thront Lapkovskajas Terrasse. Sie muss nicht lange erklären, wieso sie sich vor fünf Jahren schlagartig in diese Wohnung verliebte und wie glücklich sie war, als sie den Zuschlag bekam. Diese Wohnung ist natürlich der Fixpunkt Lapkovskajas im Viertel. Es gibt aber auch noch zahlreiche andere. Etwa, eine Straße weiter, den weit über die Grenzen des Viertels berühmten türkischen Verdi-Supermarkt. „Hier gibt es einfach alles“, sagt Lapkovskaja. „Trevisano-Radicchio, seltsames Gemüse namens Mönchsbart, zehn Sorten Tomaten, Amalfi-Zitronen oder auch sehr gute Datteln.“
Mit ihrem pinken Regenmantel fällt sie natürlich auf, zwischen all dem Gemüse. Aber sie fühlt sich hier nicht beobachtet. Im Gegenteil, sie liebe das Viertel auch deshalb so, weil es seinen Menschen die „Undurchsichtigkeit der Konsumgewohnheiten“, wie sie es nennt, zugestehe.
„Hier gibt es einfach alles“, sagt Lapkovskaja. „Trevisano-Radicchio, seltsames Gemüse namens Mönchsbart, zehn Sorten Tomaten, Amalfi-Zitronen oder auch sehr gute Datteln.“
Sie erklärt: „Hier gibt es enorm viele Läden, da weiß man einfach nicht, wer da einkaufen soll. Aber sie halten sich. Zum Beispiel ein riesiger Second-Hand-Shop in der Landwehrstraße. Die Schuhe darin sehen aus, als hätten sie schon zehn Vorbesitzer gehabt. Oder all die Elektronikläden, die etwa ‚Computer-Zentrale‘ heißen und der Schillerstraße mal den Beinamen ‚Schillycon-Valley‘ einbrachten.“ All das halte sich hier noch, sie wisse nicht wie, aber sie finde es gut, weil es für eigene Lebenswelten stehe jenseits des Mainstreams. Und diese Lebenswelten gedeihen, ohne dass sie begafft werden. „Generell gibt es hier eine große Akzeptanz der Intransparenz.“
Das alleine aber mache das Viertel nicht aus, ein entscheidender Punkt komme hinzu. „Wenn mich Freunde aus anderen Städten besuchen und am Bahnhof aussteigen, sind die immer überrascht, wie divers und bunt dieses Viertel ist. Das ist der Lage geschuldet. Das Bahnhofsviertel ist nicht groß genug, dass sich eigene, abgeschlossene Communitys bilden könnten. Hier treffen ständig alle Gruppen aufeinander. Der Effekt ist: Obwohl man nur wenig Gemeinsamkeiten hat, hat man doch ständig miteinander zu tun“, erklärt Lapkovskaja. Herauskomme eine spezielle Co-Existenz, eine Art freundliches Desinteresse. Das ist für Lapkovskaja wichtig, denn Exotismus, das Begaffen des Fremden in seiner Andersartigkeit, ist für sie ein rotes Tuch. Vielleicht liegt das daran, dass sie genau weiß, wie es sich anfühlt als fremd wahrgenommen zu werden. 1982 wurde sie in Minsk geboren, 1993 kam sie mit ihrer Mutter nach München.
Nur wenige Gehminuten entfernt vom Verdi-Markt entfernt, am Beethoven-Platz, befindet sich ein weiterer Fixstern für Lapkovskaja, und nicht nur für sie: die berühmte Bar von Stefan Gabanyi. „Die Bar lebt natürlich vom Charisma des Wirts. Wenn man da hingeht, weiß man, dass es deep wird. Passend dazu ist die Bar auch im Keller. Hier geht es nicht ums Sehen und Gesehenwerden, sondern darum, in Gesprächen zu versinken. Plötzlich sind vier Stunden vergangen.“ Lapkovskajas Lieblingsgetränk ist übrigens der Americano, eine Light-Version des Negroni, bestehend aus Campari, Wermut und Soda.
Lange in der Gabanyi-Bar sitzen kann Lapkovskaja aber nur, wenn gerade keine Theaterproduktion ansteht. Denn dann wird der Hauptbahnhof zu ihrem eigentlichen Dreh- und Angelpunkt in München. Zum Beispiel muss sie dann nach Hannover pendeln, um dort am Staatstheater das Stück „The Revolt“ zu proben, in dem es darum geht, wie Seniorinnen und Senioren ihr letztes Lebensviertel gestalten. Ein „krasses Stück“, nennt es Lapkovskaja, in dem es wieder einmal um ihr altes Thema geht: Wie gelingt ein offener, nicht voyeuristischer Blick auf radikal andere Leben? Das Pendeln mache ihr eigentlich nichts aus, im Gegenteil, sie liebe es, mit ihrem Rollkoffer durch morgendlich-leere Straßen zu rattern. Der Zug nach Hannover fährt um 4 Uhr 11.
Leider ist dann aber auch noch die Bäckerei Herrmann zu, direkt gegenüber ihrem Haus in der Paul-Heyse-Straße gelegen. „Das ist eine Bäckerei, wie es sie leider immer seltener gibt. Keine Kette, und vor allem merkt man, dass der Inhaber und Bäcker einige schrullige Vorlieben hat. So gibt es etwa mindestens sieben verschiedene Arten Baiser. Und seine Brezen macht er extra rund und dick, solche sieht man sonst nirgends“, sagt sie.
Und während sie sonst Exotismus strikt ablehnt, kann sie beim Bäcker Herrmann dann doch ihre Neugierde nicht ganz zügeln: „Er ist eine Nummer, ich bin fasziniert von ihm. An der Wand hängen die Autogrammkarten von vielen Münchner Schauspielern. Ich frage mich schon lange, wieso, und habe zwei Erklärungen: Entweder war er früher selbst Schauspieler und Teil der ‚Szene’, oder aber diese Szene traf sich bei ihm immer nach durchzechten Nächten.“ Am besten aber gefällt ihr, dass diese Geschichte so intransparent ist wie der ganze Laden. „Von außen sieht er aus wie ein 0815-Backshop. Aber die lokale Kundschaft weiß, was sie hier und nur hier bekommt.“
Hier geht es nicht ums Sehen und gesehen werden, sondern darum, in Gesprächen zu versinken.
Lapkovskaja hofft, dass das noch lange so bleibt, dass das Bahnhofsviertel in seiner Diversität, mit seinem Lärm und seinen vielgenutzten Hinterhöfen genauso bestehen bleibt. „Denn eines muss man sich bewusst machen“, sagt sie: „auch diese interkulturellen Biotope machen eine Stadt lebenswert.“