Das russische Künstlerpaar Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky war Anfang des 20. Jahrhunderts Teil der Münchner Avantgarde. Sie residierten in der Giselastraße und führten eine komplizierte Beziehung, die schlecht für ihre Seele, aber gut für ihre Malerei war. Das Lenbachhaus zeigte bis Anfang 2020 die Werke beider in einer Ausstellung. Kuratorin Dr. Annegret Hoberg erzählt vom ungewöhnlichen Leben der beiden.
Frau Hoberg, Marianne von Werefkin stammte aus dem russischen Hochadel und wuchs sehr privilegiert auf. Wie kam sie zur Malerei?
Werefkin erhielt von klein auf eine umfassende Bildung. Sie sprach die wichtigsten europäischen Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch fließend, und schon im Alter von 14 Jahren wurde ihr zeichnerisches Talent gefördert. Sie war Privatschülerin von diversen Künstlern, weil sie als Frau nicht auf der Akademie studieren durfte. Vor allem Ilja Repin, bei dem sie zehn Jahre lang war, prägte sie. Von ihm lernte sie, im realistischen Stil zu malen. Werefkin galt als sehr großes Talent, fertigte meisterhafte Porträts, man nannte sie den russischen Rembrandt.
Bei Repin lernte sie Alexej von Jawlensky kennen, einen Soldaten aus dem Landadel, der unbedingt Maler werden wollte. Was sah Werefkin ihn ihm?
Ein vielversprechendes, künstlerisches Talent. Jawlensky war vier Jahre jünger als Werefkin – und wissbegierig. Sie nahm ihn als ihren Schüler an. Er wurde dann auch schnell zu ihrem Liebhaber.
Die beiden zogen dann 1896 – Werefkin war damals 36 Jahre alt – von St. Petersburg nach München. Warum?
Sie wollten sich von Repin emanzipieren und einen Neuanfang in ihrer Kunst wagen. Damals gab es in München die angesehene Kunstschule des slowenischen Malers Anton Azbe, die in der Georgenstraße lag und in der auch Kandinsky und viele andere osteuropäische und russische Künstler studierten. Jawlensky wollte sie auch besuchen.
Sie nennen nur Jawlensky. Was war mit Werefkin?
Sie pausierte zugunsten von Jawlensky zehn Jahre mit ihrer Kunst, wollte sich ausschließlich der Förderung seines Talents widmen.
In einem ihrer Briefe schrieb Werefkin, dass sie sich als Frau wohl eher mit der Theorie des Malens befassen sollte als mit der Malerei selbst, weil das ein Mann besser könne. Das ist erstaunlich, weil sie ja selbst sehr talentiert war.
Das war komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Ich denke, Werefkin brauchte diese Zeit auch, um einen neuen Weg in ihrer Malerei zu finden. Weg vom Realismus, hin zu mehr Abstraktion. Sie studierte in diesen zehn Jahren die Strömungen der Avantgarde ihrer Zeit sehr genau, etwa Gauguin. Ihre Erkenntnisse gab sie natürlich an Jawlensky weiter, aber sie nutzte sie auch später für ihre Malerei.
Wie sah das Leben der beiden in München aus?
Nach ihrer Ankunft bezogen sie eine herrschaftliche Doppelwohnung in der Giselastraße. Werefkin war finanziell sehr gut ausgestattet, weil sie vom Zaren eine üppige Waisenrente erhielt. Direkt in der Nachbarschaft wohnten die russischen Künstler Igor Grabar und Dmitri Kardowski, die ebenfalls die Azbe-Schule besuchten. Jawlensky war mit ihnen von morgens bis abends beim Malen. Dann gingen sie zu Werefkin nach Hause, aßen Blini und Buchweizengrütze und führten angeregte Gespräche über Kunst. Es war wohl immer sehr lustig. Werefkin baute in ihrer Wohnung nach und nach einen Salon auf, in dem sich die Münchner Kunst-Avantgarde traf und austauschte. Dort waren Künstler, Schriftsteller oder der Tänzer Alexander Sacharoff zu Gast, den sowohl Jawlensky als auch Werefkin malten. Aber auch durchreisende Russen, Adelige, Politiker, Museumsdirektoren. Werefkin hat in ihrem Salon viele Leute zusammengebracht. Das war eines ihrer großen Verdienste. Außerdem entstand im Rahmen des Salons die Idee zur Neuen Künstlervereinigung München, sie wurde dann auch dort 1909 gegründet. Sie prägte sicher die Ausformung des hiesigen Expressionismus.
Die großzügige Förderung Jawlenskys durch Werefkin führte nicht dazu, dass die beiden eine harmonische Beziehung führten. Wie war die Dynamik zwischen den beiden?
Ihre Beziehung war äußerst kompliziert. Schon nach zwei, drei Jahren in Russland kam es zu einer gewissen Entfremdung zwischen ihnen, weil Jawlensky ein Schürzenjäger war. Er hatte aber Werefkins Vater versprochen, sie nie zu verlassen. Heiraten konnten sie allerdings nicht, weil sie sonst die Waisenrente nicht mehr bekommen hätte. Doch auch in München musste Werefkin einiges ertragen. Jawlensky führte nebenher eine Beziehung mit Werefkins jungem Dienstmädchen Helene Nesnakomoff, die auch ein Kind von ihm bekam, Andreas Jawlensky. Trotzdem konnten die beiden ihre Konflikte im Zaum halten, und sie waren wohl für sie auch nicht so spürbar, weil sie ständig Gäste hatten und von Leuten umgeben waren. Sie waren selten allein.
Finden sich Spuren der privaten Verhältnisse in der Kunst der beiden wieder?
Es gibt ein auffälliges Missverhältnis zwischen den Porträts, die Jawlensky von Helene und von Marianne gemalt hat. Er nutzte Helene häufig als Modell. Er malte sie als Barbarenfürstin, als Spanierin, überlebensgroß als Ganzfigur, wahrscheinlich schwanger. Er fertigte Masken von ihrem Antlitz. Von Werefkin gibt es in dieser Art nur zwei Bilder, das letzte stammt von 1906. Danach malte er sie nie mehr.
Was war das erste Bild, das Werefkin nach ihrer zehnjährigen Pause gemalt hat?
Sie begann wohl während eines Aufenthalts in Südfrankreich wieder zu malen. Fertigte Skizzen von Pinien und anderen Teilen dieser Landschaft an. Das war Ende 1906. Eines der ersten richtigen Bilder entstand in Wasserburg am Inn. Eine sehr abstrahierte Stadtansicht in Pastellfarben, die wir auch hier im Lenbachhaus haben.
Wie würden Sie ihren Stil nach der Pause bezeichnen?
Das war Seelenmalerei mit erzählerischen, figurativen Motiven. Sie war weniger an einer ausdrucksvollen Farbmalerei interessiert, wie etwa Kandinsky oder Münter, sondern orientierte sich eher am Symbolismus von Edvard Munch oder dem Schweizer Maler Ferdinand Hodler. Man findet bei ihr oft sehr eindrückliche Figuren, die Szenen des menschlichen Schicksals darstellen, die Beziehung zwischen Mann und Frau spielt zum Beispiel eine große Rolle. Um das Schicksalhafte zu betonen, arbeitete sie oft mit Reihungen und Wiederholungen von Figuren, etwa im Bild „Die Schwarzen Frauen“, auf dem dunkel gekleidete Frauen schwere Säcke zu einem unbekannten Ort tragen.
Arbeitete Jawlensky ebenfalls so erzählerisch wie Werefkin?
Nein, Landschaften, Stillleben und Porträts waren ihm wichtiger. Er malte farbstark, löste sich vom Naturbild sehr deutlich. Sein ganz eigener Beitrag zum Expressionismus sind seine farbigen Köpfe, die er immer weiter stilisierte.
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs mussten die beiden München in Richtung Schweiz verlassen. Wie hat das Exil ihre Kunst verändert?
Ganz stark. Vor allem für Jawlensky war es ein großer Einschnitt. Sie mussten ihr gesamtes Hab und Gut in der Giselastraße zurücklassen. Es war tragisch. Während des Krieges kam es zu Plünderungen, andere Mieter wohnten dort. Fast alles, was einmal in der Wohnung war, verdarb oder verschwand. Sie gingen an den Genfer See und lebten mit Helene und Andreas in sehr beengten Wohnverhältnissen. Jawlensky hatte dort einen kleinen Platz am Fenster und malte jahrelang den Blick auf Büsche und Bäume. Diesen variierte und abstrahierte er immer weiter. Es war der Beginn seiner seriellen Arbeiten. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er, er sei im Exil so traurig gewesen und habe so viel Schmerz verspürt, dass er nicht mehr so malen konnte wie vorher.
Und Werefkin?
Ihr Stil zieht sich bis zum Lebensende durch. Aber sie malte erst einmal nicht sehr viel, weil sie ganz schnell verarmten und kein Geld für Farben hatten. Ihre Rente wurde erst nur noch unregelmäßig gezahlt, ab 1917 gar nicht mehr. Jawlensky blieb übrigens trotzdem bei ihr. Sie zogen dann noch gemeinsam nach Ascona, wo sie zusammen drei Jahre lebten. Es war also nicht nur ihr Geld, das die beiden verband.
Trotzdem muss es für Werefkin sehr hart gewesen sein, mit der Liebhaberin ihres Mannes und deren Sohn in so beengten Verhältnissen zu wohnen.
Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass sie unglaublich litt. Aber der Kontakt zu anderen Künstlern in der Schweiz linderte ihren Schmerz ein wenig. Letztlich verließ Jawlensky sie dann doch, ging von Ascona nach Wiesbaden, kam gar nicht erst zurück und heiratete ein Jahr später Helene. Er wollte, dass Andreas seinen Namen erhielt. Jawlensky hat das alles sehr verdeckt und etwas feige durchgezogen, so wie Männer eben oft sind. Diese Aktion war jedenfalls das Ende der Beziehung zwischen Jawlensky und Werefkin.
Gibt es eigentlich noch ihre gemeinsame Wohnung in München?
In dieser Form sicher nicht, sie lag in der Giselastraße 23. Werefkin selbst war 1920 noch mal dort und schrieb später, ihr Zuhause liege in Schutt und Asche – und dass sie es sich aus dem Herzen gerissen habe.
Glauben Sie, dass Jawlensky jemals so erfolgreich gewesen wäre, wenn er Werefkin nicht kennengelernt hätte?
Wahrscheinlich nicht. Mit seiner Herkunft hätte er ohne Förderung nie diesen Durchbruch erlebt und auch nie den Schritt ins Ausland gewagt. Und ich glaube, dass er im positiven Sinne ein eher naiver Mensch war, auch emotional weich, nicht sehr durchsetzungsfähig. Sie war sehr viel stärker als er. Die Liebe zur Kunst hat sie aneinandergekettet. Hier haben sie sich am besten verstanden. Sie wollten etwas Neues erreichen. Und Werefkin war hierbei ein sehr inspirierendes Element. Für Jawlensky, aber auch für die anderen Münchner Künstler.
Die Ausstellung „Lebensmenschen“ war vom 22. Oktober 2019 bis 16. Februar 2020 im Lenbachhaus zu sehen.