Unsere Autorin konnte in den letzten Jahren als Reisebloggerin ihren Entdeckerdrang ausleben, zurück in München war immer Entspannung angesagt. Was sie dabei verpasst hat, holt sie in ihrer Kolumne nach. Diesmal nimmt sie an einer Fahrradtour teil, die entlang beeindruckender Street Art und Graffiti-Werke im öffentlichen Raum führt.
Einmal bin ich auf der anderen Seite der Welt Fahrrad gefahren. Ich war ein paar Wochen in Australien und im Rahmen dessen nahm ich an einer Street Art Bike Tour in Melbourne statt. Melbourne ist nämlich die Stadt, wenn es um Kunst im öffentlichen Raum geht. So fuhr ich also in einer Gruppe mit dem Rad durch diese fremde Stadt, lernte eine Straßenverkehrsregel, die es hierzulande nicht gibt, und bestaunte riesige Murals, kleine Stencils und Graffitikunst an den Wänden – zu ein paar der unterschiedlichen Techniken kommen wir gleich noch einmal.
Ich weiß noch, wie ich mich fragte, warum es in München so wenig Kunst im öffentlichen Raum gibt und woran es liegt, dass sich in manchen Städten Trends vollkommen anders entwickeln. Heute, ein paar Jahre später, weiß ich: München war europäischer Vorreiter in der Graffiti-Szene. Und es gibt in der ganzen Stadt viel zu entdecken. Ich habe nur nicht richtig hingeschaut. Es ist also mal wieder höchste Eisenbahn, für diese Kolumne die Touristinnen-Brille aufzusetzen und an der Fahrrad-Tour des MUCA teilzunehmen.
Das Museum of Urban and Contemporary Art und die Mitgründerin Stephanie Utz habe ich an anderer Stelle bereits vorgestellt. Was im MUCA gezeigt wird, gefällt mir gut, deshalb lag es nahe, mir auch mal anzusehen, was das Team über die Museumswände hinweg anstößt und unterstützt. Ich ergattere einen Platz für die letzte Fahrrad-Tour des Jahres und treffe mich mit ein paar anderen neugierigen Menschen am Kiosk Fräulein Grüneis im Englischen Garten. Von hier starten wir die dreistündige Tour, denn die erste Station ist nur einen Katzensprung entfernt: die Unterführung am Friedensengel.
München war europäischer Vorreiter in der Graffiti-Szene. Und es gibt in der ganzen Stadt viel zu entdecken. Ich habe nur nicht richtig hingeschaut.
Direkt an der Isar entstand 2011 das erste legale Gemeinschaftsprojekt in Zusammenarbeit mit fünfzig heimischen und internationalen Kunstschaffenden. Wir steigen von den Rädern und lernen von Stephanie, dass das Kunstprojekt von Loomit kuratiert wurde, einem Münchner Graffiti-Künstler, der als Jugendlicher am ersten Wholetrain Deutschlands beteiligt war. Unter Wholetrain versteht man in der Graffiti-Szene einen von vorne bis hinten bemalten Zug und nicht nur einen Waggon. Woher die Inspiration dafür kam und wie die Stadt sich damals zum ersten Mal dem Sprühen auseinandersetze, erzählt Stephanie vor Ort am besten.
Wir streifen durch die Unterführung, die sich durch die unterschiedlich gestalteten Abschnitte beinahe wie eine Galerie anfühlt. Ganz nebenbei lernen wir mehr über die verschiedenen Techniken wie Stencil (Schablonenkunst) oder Paste-ups (Klebetechnik), die hier zu finden sind. Stephanie bezieht die Gruppe von Anfang an mit ein: Warum mag Stencil so beliebt sein und welcher Künstler hat die Technik so bekannt gemacht? Was fällt an den Eingängen der Unterführung auf und welche Einflüsse waren für Street Art und Graffiti besonders wichtig und sind es bis heute? Das alles und noch viel mehr erfahren wir von der Urban Art-Expertin, die nicht nur aus ihrem Wissensschatz berichtet, sondern auch auf jede Frage eine detaillierte Antwort geben kann.
Bei allen Kunstwerken lohnt es sich, näher hinzuschauen, einen zweiten und dritten Blick zu riskieren. Oder, wie Stephanie sagt, „die Zwiebel zu schälen“.
Zwanzig Minuten später schwingen wir uns wieder auf die Räder und fahren ein gutes Stück entlang der Isar Richtung Süden. Unterwegs kommen wir an verschiedenen Motiven vorbei, auf die Stephanie kurz verweist, doch wir halten erst an, als wir am Candidplatz ankommen. Unter dem Titel „Brücken schlagen“ wurden hier vor einigen Jahren mehrere Brückenpfeiler von deutschen und internationalen Künstler*innen mit unterschiedlichen Motiven und Schriftzügen gestaltet. Stephanie empfindet das Projekt nicht nur aus einer künstlerischen Sicht wichtig, sondern hebt den Standort hervor – der Candidplatz befindet sich außerhalb der hippen und coolen Innenstadt, hier findet man nämlich vor allem Wohnhäuser. Die Menschen, die hier leben, haben die Urban Art gut angenommen und bislang wurde nichts übersprüht, was den Respekt gegenüber der Werke zum Ausdruck bringt – schließlich ist die Vergänglichkeit von Kunst im öffentlichen Raum Teil des Spiels, dem sich alle bewusst sind.
Wir nehmen die einzelnen Säulen genauer unter die Lupe und stellen unser erlerntes Wissen auf die Probe. Die Brückenpfeiler am Candidplatz sind sehr unterschiedlich gestaltet, ihre großen Flächen zeigen, wie anspruchsvoll die Vorgehensweise ist und weisen gleichzeitig auf die physischen Aspekte der Arbeit hin. Bei allen Kunstwerken lohnt es sich, näher hinzuschauen, einen zweiten und dritten Blick zu riskieren. Oder, wie Stephanie sagt, „die Zwiebel zu schälen“. Was sie damit meint ist, wer in den Dialog mit Künstler*innen geht, sich also nicht nur mit der gezeigten Oberfläche auseinandersetzt, schält eine Zwiebel, um zum Kern vorzudringen: der darunterliegenden Message. Und nicht selten kommt es dabei zu Emotionen – wie eben auch beim Zwiebel schneiden.
Als die Sonne durch die Wolken bricht, fahren wir weiter und kommen nach zehn Minuten im Schlachthofviertel an. Auf dem Gelände des Viehhofs finden heute immer wieder Veranstaltungen statt und die Backsteinwände zieren spannende Werke. Wir biegen ums Eck und stehen plötzlich mitten in einem Graffiti-Jam. Ein riesiges Glück, denn das Festival war am vergangenen Wochenende abgesagt worden und selbst Stephanie war überrascht zu sehen, dass es nun nachgeholt wurde. So versprühen nun einige Künstler entlang der Mauer an der Tumblingerstraße plötzlich ganz viel Melbourne-Atmosphäre. Aus den Boom-Boxen dröhnt Hip Hop und der chemische Geruch der Sprays liegt in der Luft. Nachdem wir so viel über die Münchner Street-Art und Graffiti-Szene gelernt haben, können wir den Machern plötzlich live über die Schultern schauen. Vor unseren Augen entstehen riesige, farbenfrohe Kunstwerke.
Zum Abschluss der Tour fahren wir gemeinsam zum MUCA, auf dessen Gelände uns eins der größten Murals in München erwartet: Ein Calligraffiti, dessen Name auf die Mischung aus Kalligrafie und Graffiti zurückgeht. Eine Technik, die nur wenige beherrschen, doch der mexikanische Künstler Said Dokins hat sich mit seinem persönlichen Writing-Style mitten in München verewigt. Ein beeindruckender Abschluss.
Als ich an diesem Tag nach Hause radle, freue ich mich zu sehen, dass München die öffentliche Kunst nicht nur akzeptiert, sondern willkommen heißt, indem sie Flächen bereitstellt und Festivals organisiert werden können. In den Tagen nach der Fahrradtour entdecke ich außerdem viele kleine Werke an den Hausfassaden der Stadt. Es lohnt sich eben, näher hinzuschauen.
Weitere Infos zur Street Art Bike Tour finden Sie hier.