In München gibt es zahlreiche öffentliche Tischtennisplatten – mit ganz eigener ambitionierter Fangemeinde und vielen, die dort täglich trainieren. Unser Autor hält sich für einen passablen Tischtennisspieler. Wir haben ihn an die Platten dieser Stadt geschickt – um zu beobachten, was dort genau gespielt wird.
Es steht sieben zu eins für mich, und ich beginne mich sicher zu fühlen. Noch vier Punkte bis zum Satzgewinn, und Janosch am anderen Ende des Betontischtennistisches in den Isarauen nahe der Reichenbachbrücke ist beruhigend unzufrieden mit sich selbst. Zudem etwas korpulent und nicht allzu flink auf den Beinen. Bis gerade eben saß er noch bestens gelaunt, hierhin und dorthin flachsend, auf seinem selbst mitgebrachten Campingstuhl. Erhoben hatte er sich dann in seiner grauen Fleecejacke so langsam, dass klar war: Ich würde bei unserem kleinen Match nicht sein einziger Gegner sein. Da hatte ich aber natürlich schon den entscheidenden Fehler gemacht – der allerdings nicht war, dass ich ihn unterschätzte. Aber dazu gleich mehr.
Zu den erfreulicheren Dingen, für die in letzter Zeit viele Menschen Interesse entwickelt haben, gehört Freizeit an der frischen Luft. In München kann man dabei auch eine kleine Szene von passionierten Tischtennisfans entdecken. An den Platten am Flaucher etwa, im Luitpoldpark oder eben in den Isarauen an der Eduard-Schmid-Straße gibt es eine kleine Szene von Menschen, deren Hobby man Straßentischtennis nennen könnte, wenn das, womit sie fast jeden Tag viele Stunden verbringen, nicht eigentlich in Parks stattfände.
Die meisten von uns hier haben keine Ahnung, aber eine tiefe Liebe für Tischtennis.
Erstaunlich gute Neulinge sind darunter, wie an diesem Donnerstagmittag zum Beispiel Berzan und Simona, die nach einem unverbindlichen Ausgleich zu Job und Pandemiestress suchten, aber auch ein Vereinsspieler wie Carlo, der sich an der Platte zwischendurch vom Lernstress seines Jurastudiums erholt. Und dann gibt es Originale wie Janosch. Janosch sagt: „Die meisten von uns hier haben keine Ahnung, aber eine tiefe Liebe für Tischtennis.“ Die Stimmung ist hinreißend herzlich, obwohl auch schnell klar ist, dass hier niemand bloß an der Platte steht, um sich ein wenig zu bewegen. So einfach ist es nicht mit der Liebe.
Janosch ist Rentner, Ende sechzig und geplagt von Magenproblemen. Vor nicht allzu langer Zeit sei sein einziger Sohn gestorben, erzählt er, das Tischtennis sei im Grunde die letzte Freude, die ihm geblieben sei. Man merkt es ihm in der Sekunde an, in der man erlebt, wie herzlich er von seinem Campingthron aus herumfrotzelt – und wenn man gegen ihn spielt. Dass er keine Ahnung von Tischtennis habe, war natürlich schon seine erste Finte. Ich hätte danach seine Antwort auf die Frage, wie wichtig es hier an den Platten eigentlich sei zu gewinnen, ernster nehmen sollen. Er hatte nämlich, ohne zu zögern, gesagt: „Für mich ist es wahnsinnig wichtig zu gewinnen.“
In unserem kleinen Match wog er mich in Sicherheit, guckte derweil meine Stärken und Schwächen aus – und als er wusste, dass mich Selbstgewissheit blendete, schlug er zu. Ich machte nach dem sieben zu eins im ersten Satz noch ganze zwei Punkte und verlor 9 zu 11. Im zweiten Satz bekam ich eine Lektion erteilt. Ich hatte nicht mal mehr den Hauch einer Chance und verlor zügig drei zu elf. Geholfen hätte es vielleicht, wenn ich vorher mit Vereinsspieler Carlo gesprochen hätte, einem stillen Mittzwanziger, den Janosch als den Einzigen vorstellte, der „hier wirklich spielen“ kann. Auf die Frage nach dem großen Unterschied zum Vereinstischtennis hatte er nur geantwortet: „Weniger Spin.“
Janosch teilt Straßentischtennis-Fans nicht in gute und schlechte ein, sondern in „Weicheier“ und „Cojones-Spieler“. Die Weicheier kommen nur bei gutem, die anderen bei jedem Wetter.
Eine Überraschung ist das nicht. Tischtennisfans, die nur in ihrer Freizeit spielen, pflegen ihre Geräte selten allzu gewissenhaft, obwohl sie es noch gründlicher tun müssten. Unter freiem Himmel ist viel mehr Staub im Spiel, schon allein, weil der Ball ständig auf den Boden fällt. Die Beläge sind deshalb deutlich weniger griffig. Ohne Grip aber kein ordentlicher Spin. Noch entscheidender ist aber, was Carlo nicht sagte.
Die Spielweise an den Betonplatten im Freien ist wegen der weniger griffigen Beläge meist defensiver, man attackiert nicht übermotiviert, sondern wartet eher auf die Fehler der anderen. Ballsicherheit und Reaktionsschnelligkeit und gute Nerven sind daher bedeutender als Athletik, schnelle Beine und einzelne spektakulär offensive Punktgewinne zwischendurch. Die wiegen einen bloß in falscher Sicherheit über die eigenen Fähigkeiten. Der Kern der Lektion, die mir Janosch erteilte, war entsprechend: Sich selbst zu überschätzen ist viel schlimmer, als den Gegner zu unterschätzen. Letzteres ist nicht klug, ersteres wirklich dumm.
Der vollendet ökonomisch und sehr, sehr ballsicher spielende Janosch teilt Straßenspieler dementsprechend auch nicht in gute und schlechte ein, sondern in „Weicheier“ und „Cojones-Spieler“. Die Weicheier kommen nur bei gutem Wetter, die anderen bei jedem: „Wir haben hier schon Eis von der Platte gekratzt.“ Siegen bedeutet hier vor allem, Siege über sich selbst zu erringen. Und sei es, sich bei lausigen Bedingungen überhaupt erst mal aus der Wohnung rauszuwagen.
Youtube hat der Welt in den vergangenen Jahren ungezählte Videos von Straßenwettkämpfen in diversen Sportarten beschert, von Basketball und Fußball bis zum Schach. Besonders hoch sind die Klickzahlen, wenn sich Profis aus den Vereinen zum Duell mit den Straßenchampions stellen.
Ist es nicht fabelhaft, dass man dafür ausnahmsweise mal nicht den Computer oder Fernseher einschalten muss, sondern einfach in den nächsten Münchner Park gehen kann?
Aber wer sich dabei nur dafür interessiert, Profis straucheln zu sehen, verpasst die eigentliche Pointe: die wahre Schönheit des Sports, die herzerwärmende Hingabe und Demut passionierter Laien wie Janosch, die einer Sache nicht für Ruhm und Reichtum nachgehen, sondern um ihrer selbst willen – und wegen der Kraft, die sich daraus schöpfen lässt, wenn man sich den eigenen Unzulänglichkeiten stellt. Aufs ganze Leben gerechnet kommt es schließlich nicht auf Punktsiege an, sondern auf Janosch-Siege. Ist es nicht fabelhaft, dass man dafür ausnahmsweise mal nicht den Computer oder Fernseher einschalten muss, sondern einfach in den nächsten Münchner Park gehen kann?
Standort: Reichenbachbrücke
Bonus: Die Isar-Quelle und der Reichenbachkiosk bieten perfekte Verpflegung für den nächsten Plattenfight.
Wer hier spielt: So ziemlich alle, von Neuling bis Profi. Mittags kommt manchmal Publikum aus den umliegenden Büros.
Standort: Königsplatz
Bonus: Hier am Königsplatz stehen insgesamt drei Platten, in der nahe gelegenen Minna Thiel kann man sich Bälle und Schläger ausleihen.
Wer hier spielt: Studierende und die Nachbarschaft
Standort: Grünwaldpark am Nymphenburger Kanal, drei Platten stehen hier, zwei davon mit Stahlnetz.
Bonus: Besonders schön an heißen Tagen durch den Schatten der Bäume.
Wer hier spielt: Hauptsächlich Menschen aus der Nachbarschaft
Standort: Luitpoldpark, nahe Brunnerstraße
Bonus: 2018 wurden bei der Bürgerversammlung durch die Westschwabinger einige Verbesserungen an den Platten beschlossen.
Wer hier spielt: Rainer Langhans
Eine Karte mit allen öffentlichen Tischtennisplatten in München gibt es auf pingpongmap.net