Einst unfeines Handwerkerviertel, dann verwegener Rotlichtbezirk, heute Ausgehviertel, Zentrum der Schwulenszene und Queer-Community und eines der beliebtesten Wohnquartiere der Stadt: das Glockenbachviertel.
Das Glockenbachviertel ist so etwas wie das mit leicht erhöhtem Puls schlagende Herz Münchens. Hier pocht das Leben, egal ob mittags, in den frühen Abendstunden oder um fünf Uhr morgens. Trifft man in anderen Großstädten junge Menschen, die überlegen, nach München zu ziehen, hört man zwangsläufig Sätze wie: „Also in diesem Viertel an der Isar gefällt es mir sehr gut!“ Die Euphorie schwindet etwas, sobald die Einheimischen berichten, dass es in etwa einem Sechser im Lotto entspricht, eine freie Wohnung in der Isarvorstadt zu finden, so der offizielle Name des Stadtteils, in dem sich das Glockenbachviertel befindet. Wieso also ist das Glockenbachviertel so beliebt? Die Antwort auf diese Frage hat viel mit dem Fluss der Stadt zu tun.
Die nahe Isar ist prägend für die Vergangenheit und Gegenwart des Viertels. Beginnen wir in der Gegenwart. Viele Viertel gruppieren sich um Münchens Altstadt: die laute Bahnhofsgegend, die geschäftige Maxvorstadt, das mondän-bürgerliche Lehel – und eben das Glockenbachviertel. Letzteres wird besonders mit Freizeit, Spaß und Dolce Vita assoziiert. Die Isar hat daran entscheidenden Anteil: Im Sommer gibt es einen unablässigen Strom meist junger Menschen, die zwischen Zentrum und dem Fluss unterwegs sind.
Aber auch im Winter ist die Isar so etwas wie die Lebensader des Viertels. Wenn die Temperaturen ungemütlich sind und das hübsche Alpenpanorama im Hochnebel verschwindet, kann man an der Isar den Blick kurz in die Weite schweifen lassen. Nicht zuletzt speist sich auch der namensgebende Glockenbach aus der Isar. Er verläuft unterirdisch und zweigt vom Westermühlbach ab, der so dicht überwachsen ist, als wäre er im tiefen Wald. Mehr Idylle ist kaum vorstellbar. Natürlich möchte man hier wohnen. Nur haben eben sehr viele diesen Wunsch.
Vor wenigen Jahrhunderten war das ganz anders. Im späten Mittelalter befand sich dort, wo der ursprüngliche Teil des Alten Südfriedhofs ist, eine Glockengießerei. Sie lag vor den Toren der Stadt, an einem kleinen künstlichen Bach, der nach ihr folglich Glockenbach genannt wurde. Der Glockenbach war dabei nur einer von mehr als 50 Kanälen, die damals die Stadt durchzogen. Sie alle wurden aus der Isar gespeist. In diesen Bächen drehten sich unzählige Mühlräder – vor der Industrialisierung war Wasserkraft die einzig verwendbare Energie in Städten.
In den Namen dieser Bäche spiegeln sich die Nutzungsweisen: neben dem Glockenbach waren das etwa der Westermühl-, der Dreimühlen- oder der Gipsmühlenbach. Was uns heute als Inbegriff eines städtischen Idylls erscheint – viele kleine Bäche durchziehen ein handwerklich geprägtes Viertel –, war vor einigen hundert Jahren alles andere als eine Toplage. Da die Bäche Müll abtransportierten, stanken sie. Schon bei geringem Hochwasser war das gesamte Viertel überflutet, da die Kanäle anschwollen. Vor allem aber galt die Gegend als unfeines Industriegebiet.
Hier wurde gearbeitet, geschwitzt und geflucht. Die Betuchten aus der Stadt fürchteten sich vor üblen Dämpfen, die angeblich krank machten. Dass genau hier ab dem 16. Jahrhundert auch noch der Pestfriedhof war, rundete das Bild der gefährlichen Senkgrube nur ab.
Rund um den Gärtnerplatz (der streng genommen nicht im Glockenbach-, sondern im Gärtnerplatzviertel liegt, aber vom Volksmund wird letzteres gerne dem ersteren einverleibt) wurde ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zwar durchaus repräsentativ gebaut, das Gärtnerplatztheater, das in seiner klassizistischen Eleganz auch in Wien stehen könnte, wurde 1865 eröffnet. Der überwiegende Teil der Bebauung besteht jedoch aus relativ einfachen Mehrfamilienhäusern, aus verwinkelten Innenhöfen, in denen sich gern auch mal einstöckige Werkstätten befinden.
Das Handwerk, von dem das Viertel einst so geprägt wurde, ist größtenteils verschwunden. In einigen Nischen halten sich alte Betriebe aber noch: so in der Müllerstraße eine kleine, sehr charmante Autowerkstatt; gegenüber ist ein Fachbetrieb für Schaumstoffe. Nicht weit entfernt befindet sich eine Meisterwerkstatt für Schlüssel und Schlösser. Und an der Isar gibt es noch eine alteingesessene Schusterei. In den meisten alten Werkstätten befinden sich heute allerdings Boutiquen und Büros, in denen Menschen, die ungewöhnlich gestaltete Brillen tragen, an Apple-Rechnern arbeiten.
Die Tatsache, dass das Glockenbachviertel ein einfaches, proletarisches Quartier war, hatte noch einen anderen Effekt, einen, der den Stadtteil bis heute prägt. Ab dem frühen 20. Jahrhundert war es eines der Rotlichtviertel der Stadt. Metzger aus dem nahen Schlachthof, Schauspieler*innen, Künstler*innen, Studierende, Bohemiennes, Lebemänner und Herumtreiber kamen hierher, um sich in den unzähligen verrauchten Bierhöhlen zu vergnügen. Besonders gut ging das in einem Wirtshaus, das als eine Art Kantine des Gärtnerplatztheaters fungierte: in der Deutschen Eiche.
In den 1920er-Jahren führte hier eine Zuhälterin namens Napoleon das Regiment, noch heute kursieren Geschichten über ihre vierschrötige Durchsetzungskraft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Glockenbachviertel erst zur Ausgehmeile der amerikanischen Soldaten, bald gab es hier die verruchtesten Rock-'n'-Roll-Kneipen der Stadt. Während in Schwabing und der Maxvorstadt das Publikum studentisch war, hatte das Glockenbachviertel den Ruf, ein hartes Pflaster zu sein, mit groben Burschen an jeder Ecke, deren provozierenden Blicken man lieber auswich.
Die gelebte Nonchalance des Rotlichtmilieus und dessen natürliche Distanz zur Exekutive führte auch dazu, dass sich das Glockenbachviertel schon ab den 1920er-Jahren zum Treffpunkt für Schwule etablierte. 1969 – Homosexualität war gerade entkriminalisiert worden – eröffnete mit dem bis heute existierenden Ochsengarten die erste Lederschwulenbar Deutschlands in der Müllerstraße.
Unzählige schwule Cafés, Bistros und Kneipen mit so sprechenden Namen wie Kraftakt, Feuerwache oder Rendezvous folgten. Eine Institution ist die Deutsche Eiche – Wirtshaus, Hotel und legendäres „Männerbadehaus“. Rainer Werner Fassbinder und Freddie Mercury gingen hier ein und aus.
Wie sehr Homosexualität und die gesamte LGBTQ+-Kultur heute in München Normalität sind, sieht man unter anderem an den gleichgeschlechtlichen und handhaltenden Ampelpersonen, die im Glockenbachviertel stehen und ein beliebtes Fotomotiv sind.
In den 1980er-Jahren war diese Sichtbarkeit und Normalität noch nicht ganz erreicht. In der katholischen Kirche St. Maximilian – einem wuchtigen neoromanischen Bau an der Isar – übernahm 1993 der junge Pfarrer Rainer Maria Schießler das Pfarramt. Später sollte er landesweit bekannt werden, weil er mit seinem volksnahen Stil, seinem breiten Bairisch und seiner herzensguten Art die Kirche jeden Sonntag bis auf den letzten Platz füllt. Außerdem arbeitete er als Kellner auf der Wiesn. Im Glockenbachviertel lieben ihn bis heute alle.
Er bekam mit, dass viele der Schwulen im Viertel, vor allem die, die aus dem ländlichen Bayern hierherzogen, eigentlich auch noch katholisch waren, sich aber von der Kirche nicht geliebt fühlten. Schließlich hatte er eine Idee. Er legte die Prozession am vielleicht schönsten katholischen Feiertag, zu Fronleichnam – der Feier der Realpräsenz des Herrn – durch das Glockenbachviertel. Die vier Feldaltäre ließ er 2006 vor Schwulenbars aufstellen.
Als die Prozession vor dem Nil in der Hans-Sachs-Straße hielt und der Weihrauch sich in den Himmel kräuselte, öffneten sich im ersten Stock Fenster, und Schwule ließen Rosenblätter auf den Pfarrer und seine Ministranten regnen. Mehr Bayern geht nicht – und das mitten in der Stadt.
Wer im Glockenbachviertel flaniert, dem wird nicht langweilig. Man trifft: alternde Schwule, gerne in dunklem Leder, die von den wilden 1980er-Jahren, von Fassbinder und Freddie Mercury erzählen. Mit ein bisschen Glück sieht man aber auch Homosexuelle in anderem Lederzeug, nämlich Mitglieder der stadtbekannten „Schwuhplattler“ in Tracht. Gelassenen Schritts ziehen Damen mittleren Alters vorbei, die in einer der vielen Gassen kleine Boutiquen für Mode und Keramik haben. Schlurfend und lässig hingegen bringen Vinylsammelnde ihre gerade in einem der größten und bestsortierten Plattenläden Europas, dem Optimal in der Kolosseumstraße, erstandenen neuen Schätze nach Hause.
In den frühen Abendstunden schlendern gut situierte Agenturangestellte in eines der neuen Casual-Fine-Dining-Restaurants, wo sie ein aus vielen kleinen Gängen bestehendes Abendessen einnehmen und dazu naturtrüben Wein trinken. An ihnen vorüber zieht ein nicht abreißender Strom junger Menschen, je nach Distinktionsgrad eine Flasche Spezi oder einen Becher Flat White tragend, in Richtung Isar. Und das alles passiert schon am Tag. Sobald die Dunkelheit einbricht, kommt das Nachtvolk ins Glockenbach. Bunt – das ist ein Attribut, mit dem sich heute viele Städte schmücken wollen. Im Glockenbachviertel ist die Buntheit keine Plattitüde, sondern das Betriebssystem des Alltags.