Unsere Autorin hat eine Wildkräuter-Wanderung in München an der Isar gemacht – und sich durch Kratzbeeren, Gundermann und Mädesüß probiert.
Wer an Wildkräuter denkt, hat passionierte Hobbygärtner und wilde Wiesen vor Augen. Den Bauern mit Trachtenhut, der mit seinem Kräutermesser durch die Landschaft zieht und genau weiß, was er essen kann und welche Pflanzen giftig sind. Wildkräuter klingen nicht unbedingt nach Stadtmenschen und Isar. Dass allerdings direkt vor meiner Haustüre in Untergiesing Wildkirschen, Walderdbeeren und Haselnüsse wachsen, höre ich heute zum ersten Mal – und das obwohl ich schon viele Jahre hier wohne.
Dass direkt vor meiner Haustüre Wildkirschen, Walderdbeeren und Haselnüsse wachsen, höre ich heute zum ersten Mal.
Wir treffen uns an einem Sommermorgen zu einer geführten Kräuterwanderung mit Caroline Deiß am Candidplatz. Die Wildkräuter-Expertin beschäftigt sich schon seit ihrer Kindheit mit Pflanzen, mittlerweile kann man ihr Wissen auch in dem Buch „Die Magie der Wildkräuter“ nachlesen. Sie organisiert Wanderungen sowie Kochkurse und hält Vorträge zu dem Thema. Dabei erzählt Caroline nicht nur viel Spannendes rund um essbare Pflanzen, sondern auch jede Menge Geschichten aus der Mythologie und Märchenwelt. Bei ihrer Wildkräuter-Tour werden wir auch erfahren, warum Aschenbrödel einen Baum auf das Grab ihrer Mutter pflanzte und was der Hollerbaum eigentlich mit Frau Holle zu tun hat.
Und natürlich schwingt beim Thema Wildkräuter auch immer noch eine gewisse Portion Spiritualität mit. So erzählt Caroline uns, dass in den Blüten Elfen und Feen wohnen und dass es besonders gut ist, frisch geerntete Pflanzen zu essen, weil diese noch viel Sonnenenergie enthalten. Nun kann man darüber streiten, was eigentlich realitätsferner ist: Dass ich keine einzige Pflanze in meiner Umgebung benennen kann oder dass jemand an Feen glaubt.
Nun kann man darüber streiten, was eigentlich realitätsferner ist: Dass ich keine einzige Pflanze in meiner Umgebung benennen kann oder dass jemand an Feen glaubt.
Zuerst einmal bin ich aber über die Teilnehmer*innen erstaunt: Ganz nach dem Klischee hatte ich weißbärtige Männer mit Trachtenhut und Kräutermesser erwartet, aber an unserem Treffpunkt stehen vor allem junge Paare und Freundinnengruppen. Statt Hüte und Kräutermesser haben sie schneeweiße Notizblöcke und leere Brotzeitdosen dabei. Die nächsten drei Stunden werden wir nämlich nicht nur viel mitschreiben, sondern auch sammeln, damit man für spätere Wanderungen genau weiß, wie jede Pflanze auszusehen hat.
Schon bei unserem dritten Halt lerne ich die Kratzbeere kennen – direkt an einer Straße, die ich fast täglich entlang laufe. Wie eine kleine Brombeere sieht sie aus, eigentlich lecker. Doch während sich die anderen schon munter Beeren in den Mund stecken, habe ich noch Bedenken. Habe ich sicher die Richtige gesammelt? Wächst direkt daneben vielleicht eine giftige Schwesterbeere? Kann ich einfach so etwas pflücken und essen, ohne dass ich es vorher abwasche?
Alle staunen und ich weiß nun, warum Wildkräuterwanderungen immer beliebter werden. Es ist das Bedürfnis wieder eine Verbindung herzustellen zu unserer Umwelt und der Natur, die uns fremd geworden ist.
Ich bin in der Stadt aufgewachsen, meine Lebensmittel kaufe ich im Supermarkt und das höchste der Gefühle war es, als Kind Gänseblümchen zu essen. Ich habe kaum mehr einen Bezug zu meinem Essen, weil ich nicht weiß, wo es herkommt, und im Laden sowieso immer alles da ist. Wie sieht die Pflanze aus, die diese Früchte trägt? Und wo wachsen diese Kräuter? All das weiß ich nicht. Aber Caroline weiß es. Also nehme ich meinen Mut zusammen und probiere die Kratzbeere. Sie ist so lecker, dass ich mir gleich noch eine nehme. Und damit ist die Angst wie herunter geschluckt, denn von nun probiere ich fast alles, was uns auf dem Weg begegnet.
Dabei sind einige Wildkräuter wirklich lecker und vergleichbar mit Lebensmitteln, die man aus jeder Küche kennt – wie das Ruprechtskraut, das nach Koriander schmeckt und für manche wohl verdient auch „stinkender Storchschnabel“ genannt wird. Oder der würzige Gundermann, der an Minze erinnert. Wir lernen das Mädesüß kennen, das wie ein natürliches Aspirin wirken soll und nach Mandeln schmeckt. „Der große Ampfer ergibt zusammen mit Tomaten und Zwiebeln einen super Salat“, erklärt uns die Expertin, „und die Hagebutte lässt sich nicht nur zu Marmelade, sondern auch zu einem Mousse verarbeiten, das mit Nudeln wie eine Tomatensoße schmeckt“.
Denselben Weg wie mit Caroline bin ich schon hunderte Male gegangen – doch heute nehme ich zum ersten Mal wahr, was hier alles wächst. Und schaue ganze drei Stunden kein einziges Mal auf mein Handy.
Alle staunen und ich weiß nun, warum Wildkräuter-Wanderungen immer beliebter werden. Es ist die Sehnsucht nach Unabhängigkeit, nach „Ich könnte es auch alleine schaffen, wenn alle Supermärkte schließen“. Es ist unser ganz natürlicher Überlebenswille, das Bedürfnis, wieder eine Verbindung herzustellen zu unserer Umwelt und der Natur, die uns fremd geworden ist. Es ist aber auch eine Art von Achtsamkeit, ein Üben, wieder hinzusehen. Genau denselben Weg wie mit Caroline bin ich schon hunderte Male gegangen – doch heute nehme ich zum ersten Mal wahr, was hier alles wächst. Und schaue ganze drei Stunden kein einziges Mal auf mein Handy.
Wir lernen, dass man aus allen essbaren Kräutern Tee machen kann und dass sämtliche Zapfen von Nadelbäumen mit Vodka oder Obstler aufgegossen zu leckeren Schnäpsen oder Likören werden. Wer Zirbenschnaps mag, wird auch Lärche gerne trinken. Dass Haselnüsse, Kornelkirschen, Himbeeren und Brombeeren in allen Münchner Parks wachsen und dass es zudem auch ausdrücklich erlaubt ist, in öffentlichen Parks zu ernten. Dass es Apps gibt wie PlantNet, die einem bei der Wildkräutersuche helfen, die Pflanzen richtig zu identifizieren.
Ein paar Spaziergänger beäugen uns verunsichert, als wir die Wiesen in den Isarauen nach essbaren Pflanzen absuchen. Aber es fühlt sich nicht komisch an, wir wissen etwas, das die anderen noch nicht entdeckt haben.
Nicht weniger spannend finde ich auch, wie zusammengehörig sich die Gruppe nach nur drei Stunden Wanderung fühlt. Wir sind wie eine eingeschworene Gemeinschaft, die nun ein geheimes Wissen mit sich herumträgt. Ein paar Spaziergänger*innen beäugen uns verunsichert, als wir die Wiesen in den Isarauen nach essbaren Pflanzen absuchen. Aber es fühlt sich nicht komisch an, wir wissen etwas, das die anderen noch nicht entdeckt haben. Und dass wir zusammengehören, erkennt man an den blauen Händen, die wir von einem Kirschbaum um die Ecke haben. Die Kirschen waren leckerer als sonst – sicherlich auch, weil wir sie selber geerntet haben.
Nach der Wanderung fahre ich an diesem Sonntag noch zum See. Und ich kann es nicht lassen, an jedem Baum, in jedem Dickicht und auf jeder Wiese zu gucken, ob hier was Essbares wächst. Ich stehe noch ganz am Anfang mit meinem Wildkräuter-Wissen, bräuchte sicherlich noch eine Wanderung oder zumindest ein Buch zu dem Thema, aber eine Sache hat sich jetzt schon grundlegend verändert – nämlich mein Blick auf die Natur.