Für die Reihe „Ich war noch niemals …“ besuchen unsere Autorinnen und Autoren Orte in München oder Ausflugsziele im Umland, an denen sie noch nie waren. Diesmal berichtet Karoline Graf von ihrem ersten Besuch in der Dokumentation Obersalzberg in Berchtesgaden.
Ehrlich gesagt war ich doch schon mal am Obersalzberg, als Kind, vor langer Zeit, Ende der 1960er-Jahre, als die Amerikaner hier ein Erholungszentrum für ihre Soldaten unterhielten. Ein Dokumentationszentrum zur Geschichte des Ortes in der NS-Zeit war damals noch nicht in Sicht. Ich erinnere mich an die steile und kurvige Bergstraße mit ihren Begrenzungen aus hellen Natursteinquadern von Berchtesgaden hinauf zum Obersalzberg und wie schlecht mir wurde auf dem Rücksitz des VW-Käfers, eingeklemmt zwischen dem Gepäck und meinen drei Schwestern. Nach der Ankunft lag ich mit Kopfschmerzen im abgedunkelten Zimmer eines Gasthofs namens „Zum Türken“, in das schon am frühen Morgen der Bratfischgeruch aus der Wirtschaft zog. Konnte ich endlich wieder nach draußen, gab es da Blumenwiesen und eine Art Mäuerchen zum Balancieren, das ich jetzt nach Jahrzehnten noch unverändert vorfinde.
Was meine Familie am Obersalzberg zu suchen hatte, ist schnell erzählt: Meine Mutter war als Übersetzerin für die US-Army tätig. Unter anderem auch für den Rod & Gun Club (Jagd- und Fischereiclub), einen Freizeitclub amerikanischer Offiziere in Deutschland, der einmal im Jahr auf dem Obersalzberg eine große Versammlung veranstaltete. Nicht weit von unserer Unterkunft entfernt lag damals das General Walker Hotel und während ich noch mit meiner Übelkeit kämpfte, spielte drüben im Festsaal meist schon die obligatorische Berchtesgadener Blaskapelle zum Auftakt der Jahreshauptversammlung des Clubs.
Der Krieg lag damals gut zwanzig Jahre zurück. Im Zeichen der inzwischen gewachsenen Freundschaft begrüßte der Eröffnungsredner die einheimischen Musiker auf Deutsch: „Wir danken Ihnen für die schonen Tonen, die Sie uns geblusen haben.“ Diese und alle übrigen Reden der Tagung wurden dann auf Englisch fortgesetzt und von meiner Mutter für die deutschen Teilnehmer gedolmetscht.
Für diese Aufgabe wurde sie einmal im Jahr aus Heidelberg abberufen, dem damaligen Hauptquartier der US-Streitkräfte in Europa. Und wir, ihr Mann und die Kinder, kamen eben alle mit. Bei einem ihrer letzten Einsätze erhielt sie eine Auszeichnung für ihre Verdienste. Der feierliche Moment der Übergabe ist auf einem Schwarz-Weiß-Foto festgehalten, das noch immer in meinem Elternhaus hängt und ein Stück Zeitgeschichte vom Obersalzberg erzählt.
Ein halbes Jahrhundert später bin ich zurück an diesem Ort. Vom General Walker Hotel existiert inzwischen nur noch ein gesichtsloser Anbau, in dem heute der Berggasthof untergebracht ist, der Rest ist dem Besucherparkplatz der Dokumentation Obersalzberg gewichen. Die Ausstellung wurde nach dem Abzug der Amerikaner Ende der 1990er-Jahre eröffnet und beleuchtet die Jahre zwischen 1923 und 1945, in denen Hitler den Obersalzberg zunächst als Rückzugsort für sich entdeckte, um das Areal dann nach der Machtergreifung 1933 zur zweiten Schaltzentrale neben Berlin auszubauen.
Mit dem Museum setzte die bayerische Regierung das sogenannte Zwei-Säulen-Konzept um: Tourismus am ehemals braunen Berg wollte man wieder zulassen, gleichzeitig sollte ein Ort geschaffen werden, an dem über die Verbrechen der Nazis informiert und jeglicher Art von Hitler-Folklore entgegengewirkt würde.
Ich hatte lange nicht gewusst, dass Hitler ganze vier Jahre hier auf dem Höhenzug zwischen Watzmann, Untersberg und Hohem Göll verbrachte. Außerdem hatte ich immer den Berghof mit dem Kehlsteinhaus verwechselt. Nach meinem Besuch vor Ort weiß ich es besser: Von Hitlers Residenz, dem Berghof, existieren heute nur ein paar Mauerreste.
Das 800 Meter höher gelegene Kehlsteinhaus, oder „Eagles Nest“, dagegen wurde von Hitler wenig genutzt und blieb mitsamt Teilen seiner tristen Dreißigerjahre-Innenausstattung vom Bombardement bei Kriegsende verschont. Seine Lage mit Blick auf Watzmann und Königssee sollte ausländische Staatsgäste beeindrucken. Heute verbinden die meisten Menschen den Besuch im Dokumentationszentrum mit einer Auffahrt zum Eagle's Nest. Sie ist allerdings nur von Anfang Mai bis Ende Oktober möglich.
Die neue Ausstellung Idyll und Verbrechen wurde im September 2023 in einem großzügigen Erweiterungsbau eröffnet und rollt die Geschichte des Nationalsozialismus vom Obersalzberg her auf. Sie ist eine der besten Ausstellungen, die ich zum Thema gesehen habe. Bereits im Titel greift sie die von Hitler betriebene Verklärung seiner Person und des Lebens auf dem Berghof auf.
In insgesamt fünf Kapiteln dokumentieren ausgewählte Fotografien, Exponate, Biografien, Tatorte und Täterorte, wie früh Verfolgung und Ausgrenzung im idyllischen Berchtesgadener Land die Politik beherrschten und wie der Holocaust und der verbrecherische Krieg auch vom Obersalzberg aus geplant und befehligt wurden. Konzipiert wurde die Dokumentation vom Institut für Zeitgeschichte mit Sitz in Berlin und München, das bereits 1949 damit begann, die nationalsozialistische Diktatur wissenschaftlich zu erschließen.
Ich schließe mich einer Gruppe an, die einen 80-minütigen Rundgang inklusive einer Besichtigung der ab 1943 angelegten Bunkeranlagen gebucht hat. Eine solche Führung kann ich wirklich empfehlen. Ich bin schwer beeindruckt von unserem Guide, von seiner ruhigen Art, von seinem Wissen um die Zusammenhänge und davon, wie er es schafft, die richtigen Worte zu finden.
Gleich am Beginn der Ausstellung erwartet die Gäste ein interaktives Modell des Obersalzbergs zu seiner Zeit als Führersperrgebiet. Per Knopfdruck kann man die Anwesen der Nazi-Größen beleuchten, denn neben Hitler besaßen auch Martin Bormann, Hermann Göring und Albert Speer hier eigene Häuser.
Auch das General Walker Hotel ist dargestellt, unter dem Namen „Platterhof“ war es so etwas wie die Wiege des Tourismus am Obersalzberg, im Dritten Reich dann Hotel des nationalsozialistischen Reiseveranstalters „Kraft durch Freude“. Nach 1945 nutzten es die Amerikaner. Im Jahre 2001 wurde es abgerissen.
Nicht weit davon leuchtet ein Birnchen beim Hotel „Zum Türken“ auf, unsere Unterkunft in den 1960er-Jahren. Was ich bisher nicht wusste: Von 1933 bis 1945 beherbergte es Hitlers Wachmannschaft, SS und Gestapo. Ein Bunkersystem verband das Hotel mit dem Berghof.
Hitler trägt Tracht, Hitler gibt Autogramme, Hitler tätschelt die Hände der Dorfkinder. Der Diktator nutzte die „Bühne Obersalzberg“ in den ersten Jahren, um sich volksnah und als kinderlieber Familienmensch zu inszenieren. An einem Medientisch wird entlarvt, dass jeder einzelne vermeintliche Schnappschuss in Wirklichkeit darauf abzielte, die nationalsozialistische Propaganda zu verbreiten und noch bis ins letzte Kinderzimmer zu tragen. Zigarettenbilder-Sammelalben, in die man Bilder vom Führer einkleben konnte, fanden reißenden Absatz.
Dabei wird deutlich: Die ganze Volkstümlichkeit war vorgeschoben. Hitler hat das alte Dorf Obersalzberg skrupellos zerstört. Damit er und seine Entourage ungestört ihre „Teestunden“ abhalten konnten, wurde nicht nur der Besitzer des „Türken“ 1933 zum Verkauf gezwungen, sondern die gesamte Dorfgemeinschaft von ihren Höfen vertrieben. Diese wurden entweder abgerissen oder durch Umbauten entstellt. Nichts blieb übrig von dem einstigen Bergbauerndorf, das 1921 bereits das Prädikat „heilklimatischer Höhenkurort“ trug und ab Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche, auch prominente, Sommerfrischler anzog. Die Lücke, die gerissen wurde, erkennt man, wenn man die historischen Aufnahmen vom Obersalzberg mit der heutigen Situation vergleicht. Schließen kann man sie nicht: Es führt kein Weg zurück ins Bilderbuchland von einst.
Anstelle einer Gesamtdarstellung des Nationalsozialismus zeigt die Ausstellung anhand von Einzelschicksalen, wie Menschenleben zerstört wurden und dass das Nazi-Regime vor nichts und niemandem Halt machte: Heute noch geachteter Mitbürger, Nachbar, Vereinskollege, vielleicht sogar NSDAP-Parteimitglied, morgen schon angeprangert und ausgegrenzt. Niemand konnte sich sicher sein. Am allerwenigsten diejenigen, denen allein aufgrund ihrer Herkunft oder körperlicher Einschränkungen jedes Recht auf Leben abgesprochen wurde.
In der Ausstellung sind die Schicksale vieler dieser Menschen dokumentiert: Väter waren sie oder Mütter, Töchter, Söhne, Tanten, Onkel, Cousinen, Freunde oder Verwandte. Beim Anblick der beiden Mädchen mit dem Judenstern, von denen eines ernst in die Kamera schaut und das andere verlegen lächelt, kommen mir die Tränen. 1941 wurden sie von München nach Litauen verschleppt und ermordet.
Kapitel vier der Ausstellung zeigt: Überall in Europa starben und litten Millionen Menschen wegen der mörderischen Entscheidungen, die am Obersalzberg getroffen wurden: In Tötungsanstalten wie Hartheim werden kranke und behinderte Menschen für nicht lebenswert befunden, jüdische Kinder, Frauen und Männer werden in ganz Europa systematisch ermordet. Die Bewohner*innen Leningrads verhungern während der Belagerung durch die Wehrmacht. Bei der Schlacht um Stalingrad erfrieren und verhungern Tausende von deutschen Soldaten und doppelt so viele russische sterben. Auf dem Berghof dagegen herrscht allzeit fröhliches Gelächter.
Vor der Rückfahrt nach München unternehme ich noch einen Spaziergang vom Museum hinüber zum Hotel „Zum Türken“. Wo sich die Villa von Hermann Göring befand, ist ein Fünf-Sterne-Hotel entstanden. Gäste in weißen Bademänteln liegen in der Sonne.
Längst sind der Berghof und die Trümmer anderer Täterorte am ehemals braunen Berg von Wald überwachsen. Was den Bombenhagel der Engländer 1945 überstand, wurde Anfang der 1950er-Jahre gesprengt. An Hitlers Lieblingsort sollte kein Wallfahrtsort für alte und neue Nazis entstehen. Und dennoch, so erzählt uns der Guide, entfernt der Hausmeister jedes Jahr an Führers Geburtstag Grablichter vom Gelände des Berghofs.
Bei meinen Recherchen bin ich auf Internetseiten gestoßen, auf denen Devotionalien vom Berghof, wie Kerzen und Pfeffersteuer mit Hakenkreuz-Dekor oder Spitzenhandschuhe von Eva Braun gehandelt werden. Warum zum Teufel sammeln Leute so etwas? Was geht bloß in ihnen vor? Und warum sind heute schon wieder Parteien salonfähig, die sich ungeniert die Ausgrenzung anderer auf die Fahnen schreiben?
Viele Gäste der Ausstellung zeigen sich besorgt über das Wiedererstarken rechtspopulistischer Parteien und rechtsextremer Gruppen in Deutschland und ganz Europa. Aus den vielen Einträgen zu diesem Thema ins Gästebuch der Dokumentation Obersalzberg, möchte ich abschließend diesen von Anfang Juni 2024 zitieren:
„It should never happen again. Wehret den Anfängen! (...) Wir sind nicht verantwortlich für das, was unsere Ur- und Großväter getan haben, aber wir müssen dafür sorgen, dass es nie wieder passiert!"