Unser Autor lebt seit zwanzig Jahren in München, hat aber noch nie einen ganzen Tag auf dem Starnberger See verbracht. Das wollte er ändern.
Als die MS Starnberg ablegt, stehen wir auf ihrem Aussichtsturm: zehn Meter (geschätzt!) über der Wasseroberfläche, von der das Licht der Sommersonne blendet. Meine Tochter sitzt neben mir auf Kniehöhe. Sie hat sich in den Eingang einer Rutsche, die sich auf das Sonnendeck windet, gezwängt – und gemerkt, dass sich mit Kleid nur schlecht über Metall gleiten lässt. Zu viel Haut, zu wenig Stoff. Nun bittet sie mich, ihr Teppich zu sein, sie möchte auf meinem Schoß durch die Röhre. „So weit kommt’s noch! Rutschen musst du schon allein!“, sage ich. Erwachsene auf Spielgeräten fand ich schon immer erbärmlich.
Die letzte Seenrundfahrt habe ich als Teenager gemacht, auf dem Ammersee. Nicht weit von hier. Damals war ich anfangs begeistert: Schiff fahren! Dann verdunkelte tiefe Langweile mein Gemüt. Immer die gleiche Landschaft, nur alte Leute, die Sonne brannte gnadenlos herab, die Gespräche verebbten im Bedeutungslosen. Ich wurde unleidlich zu meinen Begleitungen. Kann am Alter gelegen haben, bis jetzt schob ich es auf die langsame Art der Fortbewegung.
Die Bucentaur war von italienischen Handwerkern gebaut worden, denn die aus Turin stammende Henriette Adelaide vermisste ihre Heimat und wollte Bayern wenigstens ein bisschen in Italien verwandeln.
Das Schiff wendet sich gemächlich vom Starthafen Starnberg ab und nimmt Kurs auf Berg, nicht weit entfernt am Ostufer des Sees. Die MS Starnberg ist so etwas wie das Flaggschiff der sechs Schiffe umfassenden Flotte der Starnberger Seenschifffahrt. 56 Meter lang, 15 Meter breit, 13 Jahre alt, ein Katamaran, die Decks ruhen auf zwei Rümpfen. Am Bug thront eine Figur aus Bronze. Neptun, der Herr der Meere, der aussieht, als würde er gerade über das Wasser schreiten. Er ist eine Reminiszenz an die Anfänge der Schifffahrt auf dem Starnberger See. Sie reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück, eigentlich sogar ins 16. Jahrhundert, als Herzog Albrecht V. mit einer Fregatte über den See schipperte, aber legendär ist die Geschichte der Bucentaur.
Auf dem Prachtschiff der Luxuspartybootflotte des Kurfürsten Ferdinand Maria hielt ab 1665 auch eine Neptunfigur ihre goldschimmernde Nase in den Wind. Damals gab es selbstredend noch keine Dieselmotoren, aber Untertanen. 128 von ihnen mussten den Kurfürsten und seine Frau Henriette Adelaide von Savoyen über den See rudern. Die Bucentaur war von italienischen Handwerkern gebaut worden, denn die aus Turin stammende Henriette Adelaide vermisste ihre Heimat und wollte Bayern wenigstens ein bisschen in Italien verwandeln. Und so glich die Bucentaur einer venezianischen Galeere. Auf ihr feierten die vergnügungssüchtige Henriette und ihr Gatte ausgelassene, verschwenderische Bankette mit Feuerwerk und Kanonaden.
Ich bin ganz ergriffen von so viel Erhabenheit. Das muss man mal erlebt haben, als Bayer, als Gast. Jeder. Einen sehr viel schöneren Ausblick als von diesem Schiff bekommt man nicht. See, Wetterstein, Schlösser, die sanften Hügel des Voralpenlandes. Und es ist so still.
Auf unserer Fahrt findet auch ein Fest statt. Aber kleiner und bescheidener als beim Kurfürsten. Ein siebzigster Geburtstag wird mit Weißbier im vorderen Teil des Oberdecks begossen. Dazu enthäuten die Gäste Weißwürste, die Alpenkette erscheint am Horizont, dicke weiße Wolken ziehen über einen tiefblauen Himmel, der See umschließt uns mit einem noch tieferen Blau. Vor uns erscheint Berg, der Todesort von König Ludwig numero due. Mehr Oberbayern geht nicht. Der Prunk der Wittelsbacher, eine erschütternd schöne Landschaft und die heimische Küche kulminieren hier auf Deck bei uns.
Ich bin ganz ergriffen von so viel Erhabenheit. Das muss man mal erlebt haben, als Bayer, als Gast. Jeder. Einen sehr viel schöneren Ausblick als von diesem Schiff bekommt man nicht. See, Wetterstein, Schlösser, die sanften Hügel des Voralpenlandes. Und es ist so still. Stimmen verweht der Wind, das Wasser rauscht, das Land fließt vorbei. Wir sind weit weg von allem. Keiner stört. Das Leben vergeht in Zeitlupe. Erstaunlich schnell ist dagegen mein Sinneswandel. Wie konnte ich diese Form der Ausflugsreise nur blöd finden? Schleierhaft. Gefangen in Vorurteilen.
Wir passieren Berg und das große Kreuz im See, das den Ort markiert, an dem König Ludwig II. mit seinem Leibarzt ertrank. Meine Tochter fragt, wie man so nah am Ufer ersaufen kann. Alle Erklärungsversuche schlagen fehl, der Tod des Märchenprinzen bleibt ein Rätsel, das selbst wir nicht entschlüsseln können. Nach einem weiteren Zwischenstopp bei Leoni queren wir das Gewässer, und die Alpenkette erscheint in ihrer vollen Pracht von der Benediktenwand bei Bad Tölz bis zur Zugspitze. Grandios. Wir erreichen Possenhofen, und schon wird es wieder hochadelig, der Starnberger See war eben der Lieblingssee der bayerischen Herrscher.
Die MS Bayern, das älteste Schiff der Flotte. Baujahr 1939. Sie bringt uns mit der lässigen Eleganz einer alten Dame, die weiß, dass sie mit den jungen Dingern (MS Starnberg, MS Seeshaupt) nicht mehr mithalten kann, aber dafür mit Würde und Erfahrung glänzt, nach Bernried.
Meine Tochter ist plötzlich ganz aufgeregt, sie ist Sisi-Fan. Und die residierte als junge Herzogin Elisabeth Amalie Eugenie in den Sommermonaten im örtlichen Schloss. Hinter den Bäumen am Ufer blitzt es auf. Ein Haupthaus mit vier Türmen und ausladendem Nebengebäude. Heute beherbergt es Privatwohnungen. So eine Schifffahrt ist auch eine Reise in die Vergangenheit Bayerns, vorbei an den ehemaligen Wohnsitzen von Königen und Kaiserinnen und den Orten, an denen sie sich vergnügten.
Weiter geht es nach Seeshaupt, um nach eineinhalb Stunden das erste Mal von Bord zu gehen. Der Magen knurrt, wir sind trotzdem bestens gelaunt – bisher war die Fahrt durchaus erhebend. Nun haben wir fast zwei Stunden Aufenthalt. Vor dem Mittagessen gehen wir baden, nicht weit vom Anlegesteg befindet sich am Ufer des Sees die Seeterrasse Lidl, ein gemütlicher Biergarten mit Badesteg und Liegewiese. Wir essen Saibling und Kässpatzn, beides sehr gut, braten danach in der Sonne, kühlen uns im Wasser ab.
Die Stunden verfliegen. Und dann schält sich der nächste Dampfer aus der Tiefe der Seenlandschaft. Ein weißer Punkt, der zur Maschine anwächst. Die MS Bayern, das älteste Schiff der Flotte. Baujahr 1939. Sie bringt uns mit der lässigen Eleganz einer alten Dame, die weiß, dass sie mit den jungen Dingern (MS Starnberg, MS Seeshaupt) nicht mehr mithalten kann, aber dafür mit Würde und Erfahrung glänzt, nach Bernried. Dort betreten wir noch einmal Land, um uns Kunst anzuschauen.
Das Buchheim Museum liegt nördlich von Bernried, nur einen zehnminütigen Fußweg am See von der Anlegestelle entfernt. Das Museum ragt in der Form eines abstrakten Ozeandampfers aus dem Park. Geplant hat das Museum Günter Behnisch, der auch das Münchner Olympiastadion entworfen hat, eröffnet wurde es 2001. Der Universalkünstler Lothar-Günther Buchheim – sein bekanntestes Werk dürfte die Romanvorlage für den Film „Das Boot“ sein – war der Mann hinter dem Bau.
Gezeigt wird unter anderem Buchheims Sammlung expressionistischer Kunst. Wir schreiten durch die lichtdurchfluteten Räume, betrachten Werke von Kirchner, Beckmann oder Buchheim selbst und blicken von einem langen Steg über den See. Es wäre schön, hier noch ein bisschen zu bleiben. Im Park stehen Liegestühle, die zum Herumfläzen einladen. Aber die Heimfahrt steht an.
Die MS Starnberg nimmt uns wieder auf. Von den Bergen zieht ein Gewitter auf. Der Himmel verdunkelt sich dramatisch, der Wind frischt auf und zerrt an unseren Haaren. Wir stehen wieder auf dem Aussichtsturm. Meine Tochter bittet mich wieder, mit ihr zu rutschen. Okay. Lass mich deine Unterlage sein! Wir flitzen durch die silberne Röhre. Sie lacht, ich auch. Hat sogar Spaß gemacht. Ahoi!