Als „Stadt in der Stadt“ konzipiert, war das Olympiadorf ab 1972 autofrei gestaltet und mit allen Bedarfsstätten des täglichen Lebens ausgestattet. Unsere Autorin erinnert sich an ihre unwahrscheinlich glückliche Kindheit in einem städtebaulichen Experiment.
„Du wohnst hier?“, sagten meine Freunde immer, wenn sie mich zum ersten Mal im Olympischen Dorf besuchten. Alles, was sie sahen, wenn sie die langen Reihen grauer Gebäude erblickten, war eine Betonwüste. Für mich war es ein utopisches Idyll – und mein Zuhause.
Nach seinem Bau für die Olympischen Spiele 1972 wurde das rund 40 Hektar große, vom Architekturbüro Heinle, Wischer und Partner entworfene Olympische Dorf von Kritikern als „Geisterstadt“ oder „Futuropolis“ geschmäht. Der Großteil der Presse und der Menschen in München belächelte es gleichermaßen. Es schien, als ob nur diejenigen, die es wagten, sich in der neu entstandenen Stadt aus Beton niederzulassen, ihren Zauber wirklich verstanden.
Die Siedlung wurde oft als „Stadt in der Stadt“ bezeichnet, für uns war es eher ein „Dorf in der Stadt“. Wir hatten alles, was man brauchte: einen Supermarkt, eine Schule, eine Bäckerei, einen Friseursalon, einen Schreibwarenladen, eine Bank, eine Post und sogar ein eigenes Kino. Vor allem aber hatten wir: Freiheit.
Für die Kinder war das gesamte Olympische Dorf ein großer Spielplatz. Für die Eltern bedeutete es kostenlose Kinderbetreuung. Dank der vorausschauenden Planung der Architekt*innen gibt es Autos im Dorf nur unter der Erde, in einem unterirdischen Garagennetz. Oben konnten wir Kinder frei herumlaufen. Den Satz „Pass auf, wenn du die Straße überquerst“ musste man mir nicht mitgeben. Alles was regelmäßig gerufen wurde, war: „Abendessen!“
Die nackten Fassaden von 1972 haben sich längst in Türme aus wucherndem Grün verwandelt. Geißblatt und Rosen, Lavendel und Jasmin wuchern über die Balkone.
Eigentlich ist eine Betonsiedlung für Eltern genauso wenig geeignet wie für Kinder. Wieso ist Heinle, Wischer und Partner dieser Ort trotzdem so gut gelungen? Keiner der Gründe dafür, abgesehen vielleicht von der Freiheit des Herumstreunens, war mir als Kind klar. Aber als ich in diesem Sommer bei einem Besuch bei meinen Eltern, die nun schon seit 50 Jahren dort leben, meine alten Lieblingsplätze im Dorf besichtigte, verstand ich sofort, warum dieses umstrittene Experiment so erfolgreich war und immer noch ist. Seit 1998 steht es sogar unter Ensembleschutz.
Am auffälligsten ist sicher, dass es nur zehn Minuten mit der U-Bahn vom Stadtzentrum entfernt ist und dass es ausgedehnte Wildblumenwiesen gibt, die schöne Aussichten und Gelegenheit zum Herumtollen bieten. Zudem fühlt sich das Wohnen in den vier Straßen (Connollystraße, Nadistraße, Straßberger Straße und Helene-Mayer-Ring) gar nicht beengt an, obwohl hier rund 7000 Menschen leben. Es herrscht vielmehr ein Gefühl friedlicher Gemeinschaft. Die vielen kleinen Plätze, Brunnen und Bänke laden zum Verweilen und Durchatmen ein.
Alle Gebäude des Olydorfs – Hochhäuser wie Bungalows – haben nach Südwesten ausgerichtete, gestaffelte Balkone, die ein Maximum an Sonneneinstrahlung bieten, verbunden mit einem privaten Außenbereich und minimaler Lärmbelästigung durch den nahe gelegenen Mittleren Ring. Die nackten Fassaden von 1972 haben sich längst in Türme aus wucherndem Grün verwandelt. Geißblatt und Rosen, Lavendel und Jasmin wuchern über die Balkone. 90 Prozent der Menschen im Dorf leben in Eigentumswohnungen, was in München ungewöhnlich ist, die meisten wohnen hier zur Miete.
Als ich im Frühsommer 2022 wieder durch das Olympische Dorf spaziere, bin ich in London mittlerweile längst selbst Mutter von drei Kindern geworden und erstaunt darüber, wie tief die Einladung zum Herumstreunen in die Struktur der Siedlung eingewoben ist.
Meine Eltern gehörten zu den Pionieren, die schon 1971 während ihres Studiums ins Dorf zogen. 1972 räumten sie für kurze Zeit ihre Studentenbude für die Athlet*innen, nach den Spielen kehrten sie wieder zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatten meine Eltern bereits zwei Kinder und der Einzimmerbungalow wurde etwas eng. Eine Weile wurde das Bücherregal zu meinem Schlafzimmer. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Straßberger Straße zogen wir Anfang der Achtziger schließlich in eine Gartenmaisonette in der Connollystraße. Genau dort leben meine Eltern noch immer.
Für die Erwachsenen bot das Dorf einen kurzen Weg zur Arbeit in der Stadt – und beste Bedingungen, um Freundschaften fürs Leben zu schließen. Die Nachbarschaft war voller junger Eltern, die einen ähnlichen Blick auf die Welt hatten – viele von ihnen hatten studiert oder gerade begonnen zu arbeiten. Es herrschte etwas, was man vielleicht hoffnungsvolle Harmonie nennen könnte.
Als ich im Frühsommer 2022 wieder durch das Olympische Dorf spaziere, bin ich in London mittlerweile längst selbst Mutter von drei Kindern geworden und erstaunt darüber, wie tief die Einladung zum Herumstreunen in die Struktur der Siedlung eingewoben ist. Als ich mich näher damit beschäftige, stelle ich fest, dass sich die Architekt*innen damals von Spezialist*innen für urbanes Spielen – die Pädagogische Aktion e.V. in München – beraten ließen.
Das wusste ich als Kind natürlich nicht, aber ich wusste ganz genau, dass jeder Tag ein neues Abenteuer war. Es gab nicht nur viele Spielplätze im Dorf, sondern zum Beispiel auch eine riesige Weltkugel, auf die wir kletterten. Sie lag versteckt zwischen der Connollystraße und der Nadistraße. Und dann war da noch die „Rote Stadt“, eine nicht ungefährliche Ansammlung von mehrschichtigen Backsteinmauern, die dazu einluden, sie zu erklimmen oder sich darin zu verstecken. Wir waren die Kinder von Bullerbü in der Betonwüste – immer unterwegs, nie von den Eltern übersehen.
Auf meinem Erinnerungsspaziergang im Olympischen Dorf stelle ich fest, dass auffällig viele Klingelschilder immer noch dieselben Namen tragen. Offenbar sind meine Eltern nicht die Einzigen, die auch nach Jahrzehnten noch von den Vorzügen des Dorfes überzeugt sind.
Wenn ich daran denke, was wir alles angestellt haben, wird mir klar, dass die Stadtverwaltungen von heutigen Bemühungen, für „Gesundheit und Sicherheit“ in allen Spielbereichen zu sorgen, noch weit weg waren. Als Kinder blühten wir in dieser Umgebung auf. Das Dorf und seine Umgebung, die der Erfinder des „demokratischen Grüns“, Günther Grzimek, gestaltet hatte, sorgten dafür, dass kein Tag wie der andere war. Dank Grzimek, der für seinen Entwurf 1973 den renommiertesten Preis für Landschaftsarchitektur erhielt, war unsere Umgebung idyllisch und spiegelte die Hügel und Täler der bayerischen Voralpen. Wir wurden zu unerschrockenen Entdecker*innen.
Wenn wir nachmittags von der Schule nach Hause kamen, warfen wir unsere Schulranzen in die Ecke und gingen raus. Kinder jeden Alters trafen sich unbeaufsichtigt auf den Feldern hinter meinem Haus und starteten ihre Abenteuer. Es war eine Kindheit ohne Fesseln.
An unzähligen Tagen packten meine Freundin und ich das „Nötigste zum Überleben“ – Kekse, „Bravo“-Zeitschriften, Sprudel, einen Kompass – in eine große Decke und schleppten es zu einer Baumgruppe auf der nahe gelegenen Wiese. Dort saßen wir dann zwischen den Butterblumen einer selbst gebauten Höhle, sangen Nena-Lieder und überlegten, wie wir unsere großen Brüder ärgern könnten. Als wir Teenager wurden, wurde aus den „Bravos“ Bier und die Treffpunkte im Dorf wurden zu idealen Orten für Grillpartys oder zum Knutschen im hohen Gras, gut versteckt vor den Blicken unserer Eltern.
Das Konzept von Heinle, Wischer und Partner war ein Triumph, nicht nur für die Menschen im Olydorf, sondern für ganz München. Dank der Olympischen Spiele wurde die U-Bahn gebaut und die Straßeninfrastruktur verbessert, das Stadtzentrum wurde zur Fußgängerzone, und Deutschland bekam ein weltoffenes, einladendes Image.
Auf meinem Erinnerungsspaziergang im Olympischen Dorf stelle ich fest, dass auffällig viele Klingelschilder immer noch dieselben Namen tragen. Offenbar sind meine Eltern nicht die Einzigen, die auch nach Jahrzehnten noch von den Vorzügen des Dorfes überzeugt sind. Für einen Moment fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, als ein warmer Windhauch über die grasbewachsenen Ufer des Nadisees den Duft des nahenden Sommers herüberweht. Ich spüre die Vorfreude, den Rausch der ungebundenen Jugend. Und ich danke meinen Sternen, dass ich in den sanften Armen dieser vermeintlichen Betonwüste aufgewachsen bin.
Gut zu wissen: Im niedrigen Teil des Olympischen Dorfes, das heute als „Studentendorf“ bekannt ist, waren während der Spiele die Sportlerinnen untergebracht. Die von Günther Eckert und Werner Wirsing entworfenen Bungalows werden in der Regel von ihren Bewohner*innen selbst gestrichen und verfügen über eine eigene Küchenzeile, ein Bad und einen Balkon. Noch heute sind die 1052 Häuschen bei Studierenden sehr begehrt. Vor einigen Jahren wurden sie generalsaniert.