Für die Reihe „Ich war noch niemals …“ besuchen unsere Autorinnen und Autoren Orte in München, an denen sie noch nie waren – und das, obwohl sie seit Jahren oder sogar schon immer in der Stadt leben. Diesmal schaut sich Münchner Kindl Anja Schauberger zum ersten Mal in ihrem Leben die Residenz an.
Die Residenz habe ich bisher immer verpasst. Als der Schulausflug stattgefunden hat, war ich wohl krank. Ich war nie mit meinen Eltern dort und auch nicht mit Freunden, hatte kein Date dort (was vielleicht auch seltsam gewesen wäre). Wenn es in Gesprächen um die Residenz ging, wurde ich immer still. Es war mir peinlich, dass mir ein so großer Fleck auf meiner Münchner Landkarte fehlte, über den ich so wenig weiß: Wer hat in dem riesigen Gebäude gelebt? Was ist hier passiert? Und was macht die Münchner Residenz eigentlich so besonders?
An der Kasse holen Fotograf Frank und ich uns ein Ticket für das Residenzmuseum – allein das Museum ist so groß, dass wir einen ganzen Tag darin verbringen könnten. Der Rundgang beginnt gleich mit zwei Highlights: dem Grottenhof mit seinen Brunnen und Skulpturen aus tausenden von bemalten Muscheln und dem Antiquarium, dem einzigen Raum, den ich schon von Instagram kenne. Da wir früh dran sind, haben wir den beeindruckenden Saal fast für uns allein. Nur eine Influencerin ist schon hier und macht fleißig Selfies.
Das Antiquarium ist mit seiner Länge von fast 70 Metern der größte Renaissance-Saal nördlich der Alpen. Wir setzen uns seitlich auf eine der Bänke und lassen den Raum in aller Ruhe auf uns wirken. Die Deckengemälde zeigen über hundert altbayerische Städte. Herzog Albrecht V. nutzte den Raum im 16. Jahrhundert zur Sammlung antiker Skulpturen, was heute im Museum eindrucksvoll nachgestellt ist.
„Da wir früh dran sind, haben wir das beeindruckende Antiquarium fast für uns allein. Nur eine Influencerin ist schon hier und macht fleißig Selfies.“
Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurde der Saal wiederaufgebaut und für festliche Anlässe genutzt – so wie früher, denn schon im 16. Jahrhundert fanden hier Festessen an der langen Tafel statt. Fotograf Frank und ich sinnieren darüber, wie es wohl auf diesen Abenden zugegangen sein muss. Zu gerne wären wir dabei gewesen!
Es geht weiter in den nächsten Raum: Über die „Gelbe Treppe“ kommen wir in den Königsbau zur Ostasiensammlung. Für antikes Porzellan habe ich wenig übrig, irgendwie sieht alles gleich aus. Ich verrenke meinen Hals lieber hinauf zu den imposanten Deckengemälden, zähle Dutzende Kronleuchter und bestaune in jedem Zimmer eine andere Tapete.
Es ist verblüffend, wie gut die historischen Möbel erhalten sind – und überhaupt: „Was war das für ein absurder Reichtum damals?“, frage ich laut, aber Frank ist gar nicht mehr bei mir, sondern in einem der vielen angrenzenden Gänge verschwunden.
Für wirklich alles gab es ein eigenes Zimmer: zum Lesen, Schlafen, Schreiben, Arbeiten, Regieren, Anziehen und Gäste empfangen. Ein paar Meter weiter treffen Frank und ich uns wieder und scherzen: Heute kann man in Großstädten wie München froh sein, wenn all das in einem Raum stattfinden kann. Die Könige und Kurfürsten hatten sogar „Paradeschlafzimmer“, die nur hergezeigt, aber nicht genutzt wurden. Die Betten sehen allerdings wenig bequem aus: Kantig und viereckig stehen sie da, das höchste der Gefühle sind die halbrunde Nackenrollen.
Überrascht bin ich, als sich eine Türe öffnet und ich plötzlich in den oberen Rängen einer Kirche stehe. Die ursprüngliche Allerheiligen-Hofkirche wurde im Auftrag von König Ludwig I. von Architekt Leo von Klenze gebaut, den man in München von zahlreichen anderen Bauwerken kennt – wie dem Monopteros im Englischen Garten, der Alten Pinakothek oder der Glyptothek.
„Was war das für ein absurder Reichtum damals? Für wirklich alles gab es ein eigenes Zimmer: zum Lesen, Schlafen, Schreiben, Arbeiten, Regieren, Anziehen und Gäste empfangen.“
Die Kirche fiel ebenfalls den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer, wird heute aber wieder für Konzerte und Veranstaltungen genutzt. Deshalb stehen hier Stühle aufgereiht herum. Ich habe Frank schon wieder verloren und setze mich in der Hoffnung, dass er einfach etwas länger braucht und noch an mir vorbeiläuft. Durch die offenen Ränge kann man sich in der Kirche auf jeden Fall gut wiederfinden!
Auch toll sind die Hofkapelle sowie die private „Reiche Kapelle“ von Herzog Maximilian I.: Er ließ beide Kapellen ab 1600 erbauen, oben saß seine Familie, unten der Hofstaat. Das Konzept der integrierten Kirchen sehe ich hier zum ersten Mal: Man kann vom Ankleidezimmer direkt zum Altar gehen, ohne dabei das Haus zu verlassen – irgendwie praktisch, aber vielleicht auch etwas fad, denke ich mir. Es gab damals wohl wenige Gründe, raus zu gehen.
„Man kann vom Ankleidezimmer direkt zum Altar gehen, ohne dabei das Haus zu verlassen. Es gab damals wohl wenige Gründe, raus zu gehen.“
Als Frank und ich wieder gemeinsam durch die Räume streifen, fragen wir uns: Haben sich die Wittelsbacher so wie wir auch mal in der Residenz verlaufen? Und wie war es damals, hier zu leben? Kalt wahrscheinlich, weil es keine Heizung gab (ich friere, obwohl ich meine Winterjacke angelassen habe) und vielleicht etwas langweilig. Was gab es hier den ganzen Tag zu tun, wenn man nicht gerade regierte oder Feste feierte? Und wo ist eigentlich das Klo?
Zum Ende hin empfängt uns im Spiegel- und Miniaturenkabinett noch einmal die volle Ladung Prunk. Das nachgebaute „Herzkabinett“ hinterlässt bei mir einen bleibenden Eindruck: Es war der privateste Raum von Henriette Adelaide von Savoyen, die schon mit 14 Jahren von Turin nach München kam, um hier den gleichaltrigen Kurfürst Ferdinand Maria zu heiraten. Dieser vergleichsweise winzige Raum in der Residenz ist eine Hommage an die Liebe der beiden: Überall entdecke ich Herzen – auf Gemälden und in den goldverzierten Rahmen der Deckenbilder. In seinem Ursprung war dieser Raum übrigens nur über die Bettnische zu erreichen, wie ich später nachlese.
„Wir fragen uns: Haben sich die Wittelsbacher auch mal in der Residenz verlaufen?“
Danach verliere ich doch ein wenig den Überblick. Mittlerweile sind Frank und ich schon über drei Stunden unterwegs und voll mit Eindrücken. Die Residenz ist einer der größten Museumskomplexe Bayerns und das größte Stadtschloss in Deutschland. Sie hat eine Grundfläche von 40.000 Quadratmetern mit 150 Räumen – und ich bin mir sicher, über 100 davon haben wir bereits gesehen. Also machen wir uns glücklich und müde auf den Heimweg.
Ich bin froh, dass ich mir endlich die Zeit genommen habe für diesen wichtigen Teil der Münchner Stadtgeschichte. Ich habe hunderte Fotos gemacht, viele Eindrücke hallen noch Tage später nach. Endlich kann ich mitreden, wenn es in einem Gespräch um die Residenz geht. Und vielleicht ist das Residenzmuseum gar keine schlechte Idee für ein Date: Man hat viele Stunden Zeit miteinander, um sich kennenzulernen. Und wenn es nicht so passt miteinander, geht man zwischen dem „Zimmer der Ewigkeit“ und dem „Vierschimmelsaal“ ganz unbemerkt einfach verloren.