Die ersten Münchner Boazn eröffneten um die Jahrhundertwende und sind bis heute ein wichtiger Teil der Stadtgeschichte. Mittlerweile ziehen auch junge Betreiberinnen und Betreiber nach und eröffnen kleine Kneipen zum Bier trinken, Fußball gucken und Zeit vergessen.
„Ich mach' es so lange, wie es Spaß macht“, erzählt Irmgard Jörg, die Betreiberin vom „Bierschuppen“, einer kleinen Kneipe im Schlachthofviertel. Irmgard, genannt Irmi, wird bald 82, sie hat zwei neue Hüften und zwei neue Knie – doch das hindert sie nicht daran, immer noch sechs Tage die Woche hinterm Tresen zu stehen. Sie schenkt aufmerksam nach, sobald das Glas leer ist, unterhält sich mit Stammgästen und trinkt auch mal ein Stamperl mit.
Nichts an ihrem Äußeren deutet darauf hin, dass sie eine passionierte Kneipenbesitzerin ist, im Viertel beliebt und geschätzt, in München eine der letzten echten Boazn-Betreiberinnen.
Dabei sieht Irmi mit ihrer dicken Echtglas-Brille, dem orangefarbenen Pullover und dem akkurat geföhnten Haar aus wie eine ganz gewöhnliche Oma. Nichts an ihrem Äußeren deutet darauf hin, dass sie eine passionierte Kneipenbesitzerin ist, im Viertel beliebt und geschätzt, in München eine der letzten echten Boazn-Betreiberinnen. So wie Renate aus der Boazn „Bei Otto“ mit ihrer blonden Mähne oder die üppig geschminkte Charlotte aus dem „Ungewitter“.
Der Begriff „Boazn“ leitet sich ursprünglich aus dem hebräischen „Bajit“ oder dem jiddischen Wort „Bajis“ ab, was so viel wie „Haus“ bedeutet. Im Oberbayerischen bedeutet „boazn“ auch jemanden warten lassen – so wie auf das Fleisch warten, während man es „beizt“, in dem man es Stunden oder Tage einlegt. In Österreich kennt man die „Boazn“ übrigens auch, nur dort heißt sie „Beis(e)l“.
Was eine Boazn letztendlich zur Boazn macht, darüber gibt es viele Meinungen: Die einen sagen, es müsse eine möglichst kleine Kneipe sein, andere behaupten, es dürfe ausschließlich Bier (aus dem Holzfass) und Schnaps ausgeschenkt werden. Für manche gehören der obligatorische Spielautomat, der Fernseher zur Fußballübertragung sowie die Radiomusik im Hintergrund dazu. In ein paar Läden gibt es Kleinigkeiten auf die Hand, wie eine Bratwurstsemmel oder Toast Hawaii. Einig sind sich aber alle: Die Boazn ist gemütlich – so gemütlich, dass man gerne die Zeit vergisst und einfach sitzen bleibt.
Was macht eine Boazn zur Boazn? Für manche gehören der obligatorische Spielautomat, der Fernseher zur Fußballübertragung sowie die Radiomusik im Hintergrund dazu.
Die ersten Münchner Boazn eröffneten um die Jahrhundertwende. Zur Zeit der Industrialisierung waren sie ein beliebter abendlicher Zufluchtsort für Zugereiste und Arbeiter. Heute gehört das „Johannis Café“ in Haidhausen mit zu den ältesten Boazn der Stadt, es eröffnete 1924. Aber auch aus den 70er-, 80er- und 90er-Jahren haben einige der Münchner Kultkneipen überlebt.
Irmi hat ihren „Bierschuppen“ Mitte der 80er gemeinsam mit ihrem Mann eröffnet. Die Kneipe war eigentlich sein Traum, sie trank damals nicht einmal Alkohol. „Ich wollte das nicht“, erinnert sie sich, „aber jetzt macht es schon Spaß“. Als Irmi und ihr Mann sich kurz darauf trennten, übernahm sie die Boazn. Früher noch öffnete der „Bierschuppen“ bereits um halb 9 Uhr morgens, damit die Fahrer und Mitarbeiter vom Großmarkt eine Anlaufstelle für ihre Brotzeit hatten. Heute reicht 11 Uhr, das Viertel hat sich verändert.
Schon bald feiert die kleine Kneipe im Schlachthofviertel ihr 40-jähriges Jubiläum – und darauf freut sich nicht nur die Besitzerin, sondern auch das Stammpublikum. Hier sind echte Freundschaften entstanden: Jedes Jahr schmückt ein riesiger Blumenkranz zu Irmis Geburtstag das Schaufenster, der ihr neue Lebensjahr verrät – 80, 81, Irmi hat alles fotografiert und dokumentiert. Ihre Stammgäste haben ihr sogar schon einmal einen Rundflug über den Chiemsee geschenkt.
Hinter dem Tresen hängt ein Wandkalender, wie man ihn aus Großraumbüros kennt, die Geburtstage der Stammgäste fein säuberlich eingetragen.
Genauso denkt aber auch die Wirtin an ihre Gäste: Hinter dem Tresen hängt ein Wandkalender, wie man ihn aus Großraumbüros kennt, die Geburtstage der Stammgäste sind fein säuberlich eingetragen. Zum Kontrolltermin für ihre Hüfte morgen hat Irmi vier Leute im Viertel, die sie abholen könnten, erzählt sie stolz. Und wenn einer der Nachbarn tagelang nicht vorbeischaut, macht man sich Sorgen, fragt nach und klingelt.
Der „Bierschuppen“ ist winzig, nicht größer als ein Wohnzimmer: Es haben gerade einmal eine Eckbank aus Vollholz mit passendem Tisch und Stühlen Platz. An der Bar stehen eine Handvoll Hocker. Und an den Wänden hängen persönliche Fotos, Urkunden und Autogramm-Sammlungen. Wie es sich für ein echtes Wohnzimmer gehört, schützt ein Vorhang vor neugierigen Blicken. Dieser Vorhang ist es auch, der das Eintreten für Neuankömmlinge oft schwer macht.
Aber ist man erst einmal drin und hat ein Bier bestellt, kommt man sofort ins Gespräch. Irmi verschwindet immer wieder in eine kleine Küche hinter dem Tresen, um neue Gläser zu holen. Es wirkt tatsächlich ein bisschen so, als wäre man bei ihr zuhause. Über die Jahrzehnte ist der Bierschuppen zum Wohnzimmer fürs ganze Viertel geworden.
Auch die „Geyerwally“ ein paar Straßen weiter fühlt sich an wie ein Wohnzimmer, nur dass das Publikum deutlich jünger ist. Die Kneipe selbst gehört allerdings zu den ältesten der Stadt: Letztes Jahr wurde das 66-jährige Bestehen mit einem großen Hinterhoffest mit Live-Musik gefeiert. Spielautomaten und Sky-Übertragungen wird man hier nicht finden, dafür Craft Beer und hippe Brezn-Snacks von einem Münchner Start-up.
Spielautomaten und Sky-Übertragungen wird man in der Geyerwally nicht finden, dafür Craft Beer und hippe Brezn-Snacks von einem Münchner Start-up.
Das liegt vor allem an den jungen Betreibern: Mietaktivitst und Gastronom Maximilian Heisler hat 2015 zusammen mit vier Freunden die beliebte Kneipe am Rand des Glockenbachviertels übernommen. Die Geyerwally ist ein besonderer Ort, allerdings einer mit Ablaufdatum. Denn das gesamte Haus in der Geyerstraße 17 steht seit 40 Jahren leer, nur die Kneipe im Erdgeschoss haucht dem Altbau noch Leben ein.
Früher hatte die Geyerwally einen zwielichtigen Ruf, der Wirt soll schon mal betrunken hinter dem Tresen gelegen haben. Mittlerweile geht es hier zwischen 0,33l-Bier, Schiebermütze und Gitterkartoffeln deutlich gediegener, studentischer, aber auch alternativer zu. Es gibt 17 verschiedene Biere, darunter auch einige Sorten der Craft-Beer-Brauerei Tilmans aus München.
An den Wänden hängen Poster, Retro-Emaille-Schilder und Kuriositäten – wie ein leuchtendes Taxischild und ein kompletter Tischkicker.
Im Inneren der Kneipe sieht es aus wie in einem Trödelladen: An den Wänden hängen Poster, Retro-Emaille-Schilder und Kuriositäten – wie ein leuchtendes Taxischild und ein kompletter Tischkicker. Man kann sich gar nicht sattsehen und entdeckt bei jedem Besuch etwas Neues. Vieles davon ist noch vom Vorgänger-Wirt geblieben, dem Münchner Original Rainer Maria Strixner. Der war nicht nur als Holzbildhauer, Künstler und Wirt, sondern trat auch viele Jahre mit seiner Theatergruppe „Variete Spectaculum“ auf.
In den letzten Jahren hat Maximilian Heisler neben der Craft-Beer-Bar „Frisches Bier“ auch die „Boazeria“ miteröffnet. Eine moderne „Giesinger Boazn mit der Sehnsucht nach Bella Italia“, wie er es selbst beschreibt. Auch die „Boazn“, ein Bar-Kiosk-Tanzlokal direkt an der Isar, eröffnete erst im Sommer 2023. Aber kann man den besonderen Boazn-Charme einfach neueröffnen? Und woher kommt eigentlich die Sehnsucht der Jungen nach den alteingesessenen Kneipen?
„Je mehr schicke Bars eröffnen, desto eher sehnen sich die Leute nach dem Einfachen zurück.“
Einer, der es wissen muss, ist Kabarettist und Künstler Martin Emmerling, der sich vor vielen Jahren das Boazn-Quartett ausgedacht hat. Ein Kartenspiel, das „die letzten Boazn“ der Stadt sammelt und ehrt – und das sich vor allem beim jungen Publikum großer Beliebtheit erfreut. „Je mehr schicke Bars eröffnen, desto eher sehnen sich die Leute nach dem Einfachen zurück“, ist Emmerling sich sicher.
Boazn vereinen außerdem, was in München selten ist: Günstiges Bier und lange Öffnungszeiten. Oft trinkt man hier noch einen Viertel-Absacker, bevor es nach Hause geht – wie „Bei Dagmar“ in Sendling, im „Bam Bam“ im Westend oder im „Le Clou“ in der Altstadt. Die Boazn sind noch lange nicht ausgestorben, obwohl sie in den letzten Jahren sichtbar weniger wurden. Aber es gibt eben nicht nur junge Gäste, sondern auch junge Betreiber, die nachziehen wollen – so wie der Endzwanziger Luca Meenen mit seinem „Bumsvoll“ in Giesing.
Und die junge Generation der Einheimischen ist es auch, die dieses Stück Stadtgeschichte unbedingt bewahren möchten: So wurde Maximilian Bildhauer schon vor Jahren mit seinen „Munich Boazn“-Führern stadtweit bekannt, das erste von drei Büchern war seine Abschlussarbeit im Grafikstudium. Oder der Regisseur Johannes Boos, der sich 2017 in seinem Film „Hinter Milchglas und Gardinen“ den Boazn und Stüberl im ehemaligen Arbeiterviertel Giesing widmete. Das alles wird unter anderem archiviert in dem wandelnden Kunstprojekt „ZEITkapsel“ von Miriam Worek. Warum das wichtig ist? Weil die Münchner Boazn beides sind: Kult und Kultur.