Für die Reihe „Ich war noch niemals …“ besuchen unsere Autorinnen und Autoren Orte in München, an denen sie noch nie waren. Diesmal berichtet Karoline Graf von überraschenden Begegnungen bei ihrem ersten Besuch in der wieder eröffneten Archäologischen Staatssammlung.
Hoppla, das bin ja ich! Auf das Wesentliche reduziert. Die vielleicht 20 Zentimeter große Marmorfigur in der Glasvitrine zeigt einen schlanken Frauenkörper mit gestreckten Beinen, auf dem ein großer ovaler Kopf mit markanter Nase sitzt. Die Arme hält sie unter der flachen Brust verschränkt. Eher abwartend als abweisend. Die wunderbare kleine Statue ist ein sogenanntes Kykladenidol und wurde auf Naxos gefunden. Sie stammt aus der Zeit um 2700 bis 2550 vor Christus und sorgt durch ihre schlichte Präsenz dafür, dass ich mich gleich ein bisschen besser leiden mag. Ich habe das Museum vor wenigen Minuten erst betreten und könnte jetzt eigentlich schon zufrieden nach Hause gehen. Das Idol ist aber nur das erste von über 15.000 Objekten, die mich hier erwarten, um mit ihnen, wie die Museumsbroschüre verspricht, ins „Abenteuer Archäologie“ einzutauchen.
Wie ein Schatten bewege ich mich weiter durch diese „Unterwelt“, denn die Ausstellungssäle liegen in einem angenehmen Halbdunkel. Exponate wie die bronzenen Gefäße aus Mesopotamien leuchten dafür umso heller hervor. Sie sind in Saal zwei ausgestellt, der mit „Zeit und Kosmos“ überschrieben ist – alle Räume hier haben ein eigenes Thema – und stammen, wie schon das Material sagt, aus der Bronzezeit. Wer vergessen hat, wann genau die Bronzezeit war, kann es auf einem Zeitstrahl ablesen, auf dem sämtliche Perioden in der Geschichte der Menschheit von 2,4 bis 1,5 Millionen Jahren vor Christus bis 1945 mit allen Hochkulturen und wichtigen Ausgrabungsstätten abgebildet sind.
Beeindruckend ist der mit dicken Holzbalken ausgekleidete Brunnenschacht aus einer Ecke des Marienhofs samt Brunnenvergifterin, einer skelettierten Kuh, die mich aus der Tiefe angrinst.
Das älteste Ausstellungsstück hier in der neuen Dauerausstellung der Archäologischen Staatssammlung ist ein Faustkeil aus der Zeit um 100.000 vor Christus. Die älteste Darstellung eines menschlichen Wesens entstand vor unglaublichen 27.000 Jahren und stammt aus einer Eiszeithöhle im Donautal. In dieser Gegend Bayerns hat man viele Funde gemacht, denn entlang der Donau und ihrer Nebenflüsse zog sich der einzige eisfreie Gürtel in dieser grimmigen Zeit. In dem daumengroßen Figürchen kann man je nach Blickwinkel, aus dem man es betrachtet, eine Frau oder auch einen Phallus sehen.
Comic-Zeichnungen aus der Feder des Künstlers Frank Schmolke illustrieren eindrucksvoll die widrigen Lebensumstände, unter denen die Menschen lebten, die diesen Homunculus vor tausenden von Jahren schufen. Ob Eiszeit, mittelalterliches München oder das alte Rom, Schmolkes Graphic Novels beamen einen auch an vielen anderen Stellen der Ausstellung in die Zeiten zurück, aus denen die Fundstücke stammen.
Ich erinnere mich, dass vor etwas mehr als zehn Jahren am Marienhof archäologische Untersuchungen stattfanden, bevor dort für die zweite Münchner S-Bahn-Strecke gegraben werden durfte. Ich stand oft am Bauzaun und war fasziniert von den freigelegten Kellerräumen und Fundamenten der Häuser in diesem ehemals dicht besiedelten Viertel hinter dem Neuen Rathaus, das im Zweiten Weltkrieg dem Erdboden gleich gemacht wurde.
Hier in der Archäologischen Staatssammlung kann ich endlich aus nächster Nähe sehen, was dort noch so alles ausgegraben wurde: Ein Zeugnis aus der jüngeren Geschichte der Stadt ist das Geschirr-Service mit Tabletts und Milchkännchen, auch wenn man es aufgrund seines Zustands für sehr viel älter halten könnte. Das Metall ist stark oxidiert und teilweise verbogen. Es wurde aus dem Keller des ehemaligen Café Deistler geborgen, das bis 1945 an der Ecke von der Diener- zur Schrammerstraße stand.
Mal begrub man nur die Schädel, mal den gesamten Knochenmann mit reichen Grabbeigaben, oder, wie im archäologisch nicht vollumfänglich geklärten Falle der Moorleiche von Peiting, versenkte man ihren Sarg im Sumpf.
Beeindruckend ist der mit dicken Holzbalken ausgekleidete Brunnenschacht aus einer Ecke des Marienhofs samt Brunnenvergifterin, einer skelettierten Kuh, die mich aus der Tiefe angrinst. Holz gibt den Archäologen häufig Aufschluss über die Entstehungszeit, lerne ich, und so auch hier: Die Verschalung stammt aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Da das Wasser durch den Kadaver nicht mehr trinkbar war, nutzte man den Schacht später als Latrine. Der penetrante Geruch schlug den Archäologinnen und Archäologen bei der Ausgrabung noch entgegen.
Wer sich in der Münchner Altstadt selbst auf Spurensuche begeben will, der findet derzeit an insgesamt 13 Orten Stelen mit Informationen zu Dingen, die man hier wieder ans Tageslicht gehoben hat. Das Projekt wird von der Archäologischen Staatssammlung betreut. Noch bis Ende Oktober 2024 bietet das Museum auch Führungen zu diesen archäologischen Fundstätten an.
Ich habe das Glück, mit einem Bekannten unterwegs zu sein, mit dem es sich trefflich über die vielen Zeugnisse der bayerischen Vor- und Frühgeschichte plaudern lässt. Wir lassen unseren Assoziationen freien Lauf. Kommen genüsslich von Hölzchen auf Stöckchen.
Während wir durch die Panzerglasplatten unter unseren Füßen die Auffindungssituationen einst unter der Erde verborgener Objekte begutachten, fällt mir eine Fernsehdoku ein, die über einen der letzten Bewohner in einem Dorf im siebenbürgischen Teil von Rumänien berichtete, der nicht bestattet werden wollte. Der alte Mann wünschte sich, im Tod einfach umzufallen, irgendwo auf dem Feld liegenzubleiben und langsam wieder zu Erde zu werden. So wie er darüber sprach, klang es nicht besonders erschreckend.
Die gegerbten Waden der Mumie stecken übrigens in geradezu lächerlich neuwertigen Lederstiefeln. Warum dann eigentlich nicht gleich Gummistiefel, fragen wir uns.
Zu allen Zeiten gab es offensichtlich unterschiedliche Vorstellungen von einer würdevollen Beisetzung: Mal begrub man nur die Schädel, mal den ganzen Knochenmann mit reichen Grabbeigaben, oder, wie im archäologisch nicht vollumfänglich geklärten Falle der Moorleiche von Peiting, versenkte man ihren Sarg im Sumpf.
Die gegerbten Waden der Mumie stecken übrigens in geradezu lächerlich neuwertigen Lederstiefeln. Warum dann eigentlich nicht gleich Gummistiefel, fragen wir uns. Was aussieht, als hätten sich die Kurator*innen einen Spaß erlaubt, hat einen hieb- und stichfesten wissenschaftlichen Hintergrund: Der Mangel an Sauerstoff und das saure Milieu sorgen dafür, dass Moorleichen nicht richtig verwesen und stattdessen konserviert werden, das gilt für ihre Haut genauso wie für das Leder ihrer Schuhe.
Überhaupt ist dieser Saal mit den in den Boden eingelassenen Schaukästen voller Geschichten. Das Schwert aus der Bronzezeit beispielsweise hat ein mittelloser Münchner vor nicht allzu langer Zeit am Isarstrand gefunden, als er nach historischen Bierverschlüssen suchte, mit denen er sich ein paar Pfennige dazuverdiente. Für die wertvolle Waffe erhielt der Mann 5000 Euro Finderlohn, von denen er sich die Zähne richten ließ.
Der Mangel an Sauerstoff und das saure Milieu sorgen dafür, dass Moorleichen nicht richtig verwesen und stattdessen gegerbt werden, die Haut genauso wie das Leder ihres Schuhwerks.
Oder die ganzen ziegelroten Bruchstücke, Ausschussware aus einer römischen Fabrica. Es gibt wohl Beweise dafür, dass Goethe bei seinem verregneten München-Besuch anno 1786 ein paar dieser Scherben geschenkt bekam, die zu dieser Zeit noch im Antiquarium der Münchner Residenz aufbewahrt wurden. Vielleicht wollte der damalige Kurfürst den Dichter mit einem Besuch dort beeindrucken, was aber gründlich daneben ging: Als „Rumpelkammer“ der Wittelsbacher bezeichnete der Dichter die Schatzkammer in einem seiner Briefe.
Auch mit Überbleibseln aus beiden Weltkriegen befasst sich die Archäologie: Nachgestellt ist ein Bombenkrater in München-Freiham, in dem man neben einem Fahrrad und gewöhnlichem Müll der 1940er-Jahre, Zeugnisse aus der NS-Zeit, wie Parteiabzeichen, Hitlerkopf und Wehrmachtsdolch fand, die der ehemalige Besitzer nach Kriegsende sicher hastig entsorgt hat.
Weitere spannende Geschichten und Informationen zu insgesamt 25 Highlights in der Dauerausstellung bietet ein Medienguide, den man sich kostenlos ausleihen kann. Neben dem Standardrundgang steht eine „Schmankerltour“ zur Auswahl, aufgesprochen in charmantem Bairisch von der bekannten bayerischen Kabarettistin und Komödiantin Luise Kinseher.
Mein Begleiter beugt sich über eine Vitrine mit silbrig glänzenden Speerspitzen. Ich bleibe wieder mal beim Schmuck stehen. Ich liebe meinen Bernsteinring, der so viel Sonne in sich trägt, dass er meine Seele das ganze Jahr über wärmt. Fast popelig wirkt er im Vergleich zu den gewaltigen Bernsteinketten mit ihren fast tischtennisgroßen Steinen, die hier geheimnisvoll hinter Panzerglas glühen. Um solchen Schmuck zu tragen braucht es ein gesundes Selbstbewusstsein, das muss man sich erst mal trauen, denke ich voller Bewunderung. Diese Ketten waren sicher auch in der Bronzezeit schon ein echtes Statement.
Daneben gibt es Schmuckstücke, die so zeitlos modern wirken, dass man sie auch in der Danner Rotunde, dem Schmuckraum der Pinakothek der Moderne ausstellen könnte, ohne dass es jemandem groß auffiele. Reizend finde ich auch die Perlenketten, die Frauen wohl schon im 5. Jahrhundert und früher trugen. Neben Glasperlen und Metallplättchen wurden hier auch bunt modellierte Murmeln aufgefädelt, die mich an Bastelarbeiten aus meiner Kindheit erinnern. FIMO hieß das Zauberwort, eine leicht giftige Knetmasse, die im Backofen härtete.
Am Ende eines jeden Museumsbesuchs spiele ich immer dasselbe Spiel. Ich überlege mir, was ich mit nach Hause nehmen würde, wenn ich mir eine Sache aussuchen dürfte. Ich lasse den Rundgang auf diese Art noch einmal Revue passieren. Mit der kleinen Parallelwelt aus bronzenen Miniaturwaffen, Tierchen, Schiffchen und klitzekleinen Gefäßen aus einem der letzten Säle würde ich sicher nichts falsch machen. Im 8. Jahrhundert wurde sie vom Volk der Nuragher auf Sardinien als Votivgabe an die Götter entrichtet, um diese günstig zu stimmen. Mit ihren langen und dürren Gliedern erinnern die Menschlein in diesem Szenario an Skulpturen von Alberto Giaccometti, den bereits Mitte der 1960er-Jahre verstorbenen Schweizer Bildhauer.
Um solchen Schmuck zu tragen braucht's ein gesundes Selbstbewusstsein, das muss man sich erst mal trauen, denke ich voller Bewunderung. Diese Ketten waren sicher auch in der Bronzezeit schon ein echtes Statement.
Andererseits gibt es da auch ein wahnsinnig schönes Tongefäß aus der Jungsteinzeit und natürlich das Kykladenidol, in das ich mich gleich eingangs verliebt habe. Mein Bekannter liebäugelt mit dem Tonzylinder mit Keilschrift aus der Zeit 1850 bis 1843 vor Christus, alternativ kann er sich auch den keltischen Einbaum vorstellen, der vor der Roseninsel bei Starnberg gefunden wurde.
Am Ende unseres so schönen Besuchs, verlegen wir die Unterhaltung auf die Terrasse der hauseigenen Roof-Top-Bar Sola. Dort gibt es weitere wichtige Entscheidungen zu treffen: die Wahl des besten Stücks Kuchen zum Kaffee zum Beispiel.