Der Anblick der Bavaria oberhalb der Theresienwiese ist so ikonisch, dass man die rund 19 Meter hohe Statue nicht gerade übersehen, aber doch als selbstverständlich wahrnehmen könnte. Doch die weltliche Patronin Bayerns hat eine faszinierende Entstehungsgeschichte. Weshalb sich ein genauer Blick lohnt, erklärt uns Aslan Göktepe, der gemeinsam mit seinem Vater die Kunstgießerei München führt.
Die Theresienwiese ist ein 42 Hektar großer Fixpunkt im Münchner Stadtleben: Im April begrüßt man hier beim Frühlingsfest die ersten warmen Tage, im Sommer lockt sie als gigantische Freifläche zum Drachensteigen und Inlineskaten, im Winter wird hier das Tollwood-Festival gefeiert – und natürlich läutet man hier mit dem Oktoberfest-Anstich auch die sogenannte „fünfte Jahreszeit“ ein. Die Bavaria, das säkulare Gegenstück zu Maria, der religiösen Schutzheiligen Bayerns, wacht über all das mit gütiger Miene. Nur wenige halten inne und schauen zu ihr hinauf. Dabei ist sie mit knapp 19 Metern Höhe und einem Gewicht von 87 Tonnen bis heute eine technische Meisterleistung. Warum genau, erklärt uns Aslan Göktepe. Gemeinsam mit seinem Vater führt er die Kunstgießerei München in der Schleißheimer Straße, die bereits seit 1905 dort existiert.
Herr Göktepe – auch Sie haben schon eine Bavaria gegossen. Ist die vergleichbar mit dem Original?
Nicht wirklich. Es geht schon damit los, dass wir eine Miniaturbavaria angefertigt haben, etwa 20 Zentimeter hoch. Die echte misst ohne Sockel 18,52 Meter. Neben der Größe unterscheiden sich auch die Verfahren: Für unsere Bavaria haben wir das Wachsausschmelzverfahren verwendet. Das ist eine Art des Kunstgießens, die bereits circa 4000 vor Christus verwendet wurde, um detaillierte und komplexe Metallteile herzustellen, wie zum Beispiel Statuen. Zuerst wird ein Modell des gewünschten Objekts aus Wachs geformt. Das Wachsmuster wird dann mit einer speziellen, hitzebeständigen Masse ummantelt, meistens Keramik oder Gips. Die Form mit dem Wachs wird in einen Ofen gelegt, das Wachs schmilzt und fließt heraus, wodurch ein Hohlraum entsteht, der die exakte Form des ursprünglichen Wachsmusters hat. In diesen Hohlraum gießt man dann geschmolzenes Metall, zum Beispiel Bronze oder Silber.
Und bei der Bavaria lief das anders?
Das kann man so sagen. Anders als wir hat Ludwig Schwanthaler, der Bildhauer der Bavaria, kein Wachspositiv hergestellt, sondern ein Eins-zu-eins-Gipsmodell. In dieser Größe müssen sie mit einem Lehm- und Sandgemisch gearbeitet haben, in einem Sandformverfahren. Ludwig Schwanthaler erstellte zunächst eine Miniaturversion und dann ein größeres Modell, um Details und Proportionen genau festzulegen. Dann wurde ein riesiges Modell aus Gips gebaut, das man in viele kleinere Stücke zerlegte. Jedes Stück wurde in Sand gepresst, um ein Negativ zu erstellen – so, als würde man einen Abdruck in nassem Sand machen. In diese Formen wurde später das flüssige Metall gegossen. Nach dem Gießen wurden die Teile dann auf der Theresienwiese zusammengefügt.
Ludwig Schwanthaler erstellte zunächst eine Miniaturversion und dann ein größeres Modell, um Details und Proportionen genau festzulegen.
Wie viele Einzelteile wurden gegossen?
Es wurden vier große Teile gegossen, Kopf, Brust, untere Hälfte und Löwe. Und dann gab es viele Anbauteile, es sollen mehr als 40 gewesen sein: also Arme, Schwert, Eichenkranz und die ganzen Details.
Verblüffend, dass man trotz der gigantischen Ausmaße eine so hohe Detailtreue erreicht hat.
Das lag am Verfahren. Weil Schwanthaler das Sandformverfahren wählte, konnte er den Guss unglaublich detailliert umsetzen. Dank des speziellen Quarzsands, der besonders hitzebeständig und feinkörnig ist, war die Form sehr robust – essenziell für ein so großes Projekt.
Der Kopf der Bavaria wurde aus der Bronze versunkener türkischer Kanonen gegossen, die König Otto, der Sohn Ludwigs I., vor der Küste Griechenlands bergen ließ und als Recyclingmaterial nach Europa verkaufte.
Gab es noch andere Herausforderungen?
Die Menge Metall zu schmelzen. Die Arbeiter müssen unglaublich viel geschmolzen haben. 330 Zentner nur für das Bruststück. Der Kopf der Bavaria wurde aus der Bronze versunkener türkischer Kanonen gegossen, die König Otto, der Sohn Ludwigs I., vor der Küste Griechenlands bergen ließ und als Recyclingmaterial nach Europa verkaufte. Für den Transport der gigantischen Teile mussten eigens Wagen gebaut werden. Damals gab es außerdem keine Schweißgeräte, um die Teile zusammenzufügen. Ich vermute deshalb, dass genietet wurde.
Wie lange hat das alles gedauert?
Sehr lange. 1837 beauftragte König Ludwig I. seinen Hofarchitekten Leo von Klenze und den Bildhauer Ludwig Schwanthaler mit der Gestaltung. Von der Planung und Vorbereitung über den Gussprozess bis zur Fertigstellung vergingen schließlich 13 Jahre.
Warum wählte man Bronze als Material?
Bronze korrodiert nicht. Sie kriegt nur eine Patina, aber sie rostet nicht. Sie ist sehr, sehr beständig und schon seit der Antike ein sehr wertiges und edles Metall.
Dieser Gigantismus, so viel Metall auf einmal. Eine Meisterleistung, da kann ich nur meinen Hut ziehen.
Würde man die Bavaria heute erneut gießen, was wäre anders?
Die Technik hat sich kaum verändert, nur die Hilfsmittel. Wir haben jetzt Materialien, die leichter in der Handhabung sind und die Arbeit wesentlich einfacher machen. Auch die Nachbearbeitung mit elektrischen Werkzeugen wie Schweißgeräten ist einfacher. Aber das Prinzip bleibt gleich. Früher nahm man Bienenwachs für die Skulpturen. Jetzt gibt es synthetische Wachse, die haben tolle Eigenschaften, sind nicht so porös und elastischer. Damit kann man einfacher und besser arbeiten.
Was fasziniert Sie als Erzgießer an der Bavaria?
Dieser Gigantismus, so viel Metall auf einmal. Wir schmelzen hier höchstens 250 Kilo. Damals haben sie Tonnen auf einmal geschmolzen. Das ist schon noch mal etwas anderes. Eine Meisterleistung, da kann ich nur meinen Hut ziehen.
Könnte eine solche Statue auch heute noch in traditioneller Technik gegossen werden?
Wenn sie es damals gekonnt haben, muss es jetzt auch noch gehen. Aber wir müssten uns schon noch mal altes Wissen aneignen, besonders was die Größe des Projekts betrifft. Aber theoretisch schon. Wir würden es vermutlich in weniger großen Stücken probieren, peu à peu.
Wie lange würde das Schmelzen bei Ihnen dauern?
(lacht) Zwei Jahre mindestens.
Vater Hasan Göktepe, der dem Gespräch bis jetzt aufmerksam gelauscht hat, fügt lachend hinzu: „Also bis ich in Rente bin.“