Manfred Newrzella ist, solange er denken kann, beruflich und ehrenamtlich in Sachen Bier und Tradition unterwegs. Es muss wohl die ganz große Liebe sein, denn immer wieder gerät er ins Schwelgen, wenn es um Münchner Biervielfalt, Oktoberfest oder den ersten Schluck aus einer frischen Mass geht. Wir haben mit dem Bierexperten über Münchner Bierkultur gesprochen und darüber, warum der Gerstensaft vermutlich nie aus der Mode kommen wird.
Herr Newrzella, viele Jahre waren Sie Geschäftsführer vom Verein Münchner Brauereien e.V. und vom Bayerischen Brauerbund. Aktuell sind Sie Vizepräsident beim Festring München e.V. Was hat Sie denn so gepackt am Bierbrauen und der Münchner Tradition?
Ich bin vom Bier zum Brauchtum gekommen. Ich fing als Justiziar bei einer Brauerei an, hatte mir aber bereits während des Studiums beim Bierausschank etwas dazuverdient. Sogar meine bessere Hälfte habe ich bei einem Bier kennengelernt. Später hatte ich beruflich mit dem Münchner Bier zu tun. Und da war ich natürlich involviert in das Oktoberfest und die ganzen anderen Festivitäten. Ja, und dann kam die Frage, ob ich mir nicht vorstellen könnte, dort richtig einzusteigen. Da habe ich gesagt, ganz klar, da mache ich mit! Münchner Bier ist regional, Münchner Bier ist ein Stück Heimat, mit dem Reinheitsgebot von 1487 ist es hier tief verwurzelt. Wenn man da einmal reingeschnuppert hat, dann lässt es einen nicht mehr los.
Sind Sie eigentlich gebürtiger Münchner?
Ja, ich bin ein echtes Münchner Kindl. Geboren wurde ich in Neuhausen-Nymphenburg in der Taxisstraße, damals Mütterheim, heute Frauenklinik vom Roten Kreuz. In Schwabing habe ich die Volksschule und später das Gisela-Gymnasium am Elisabethplatz besucht.
„Am meisten leben wir Münchner doch im Biergarten auf. Wenn wir gemütlich mit Freunden beieinandersitzen, den Herrgott einen guten Mann und Fünfe gerade sein lassen.“
Wie muss man sich eine Kindheit und Jugend im Schwabing der 1960er- und 1970er-Jahre vorstellen?
Ich kann mich erinnern, wenn das Bier mit der Kutsche in Schwabing ausgefahren wurde, dann sind wir zum Kutscher gelaufen und haben gefragt, ob wir ein Stückerl Eis haben können und meistens haben wir auch eines gekriegt. Der ahnte schon, dass wir uns damit dann Schlachten geliefert und es den Mädchen hinterhergeworfen haben. Der Flugplatz am Oberwiesenfeld, die Baustelle des späteren Olympiaparks von 1972, hat uns Jungs magisch angezogen. Wir sind mit den Fahrrädern hingefahren und haben dort so lange Pilot gespielt, bis man uns erwischt hat.
Das Hügelgelände am Oberwiesenfeld war außerdem ein wunderbares Trainingslager zum Fahrradfahren, das Mut abverlangte. Wenn man zu langsam war, kam man nicht mehr den Gegenhügel hinauf, musste absteigen oder fiel sogar hin. Väterchen Timofei mit seinem weißen Bart hat uns manchmal einen Apfel geschenkt, aber oft waren wir nicht bei ihm, denn die Abenteuer außenrum waren verlockender. (Anm. d. Red: Väterchen Timofei kam nach dem Krieg nach München und verteidigte seine aus Kriegsschutt errichtete Ost-West-Friedenskirche mit Hilfe der Einheimischen erfolgreich gegen die Baupläne für das Olympiagelände.)
Sie haben auch in München studiert.
Ja, an eine lustige Episode aus dieser Zeit kann ich mich besonders gut erinnern. Wir hatten damals einen Professor, der das Wort Vorlesung wortwörtlich genommen und nur aus seinem Buch vorgelesen hat. Also, was haben wir gemacht? Wir haben uns sein Buch besorgt und die Vorlesung kurzerhand an die frische Luft verlegt, in den Biergarten am Chinesischen Turm. Dort haben wir es uns gut gehen lassen und abwechselnd aus dem Buch vorgelesen. Schwänzen war das natürlich nicht. Der Einzige, der nicht anwesend war, war ja der Professor.
Es gibt in München das ganze Jahr über Traditionsveranstaltungen. Bei welchem dieser Feste tritt für Sie die Münchner Seele am deutlichsten zu Tage?
Frühlingsfest, Oktoberfest, Starkbierzeit, Maibockzeit, Tag des Biers, Brauertag – wenn in München gefeiert sind, dann sind die Münchner natürlich da. Bier und München, das gehört zusammen. Aber am meisten leben wir Münchner doch im Biergarten auf. Wenn wir gemütlich mit Freunden beieinandersitzen, den Herrgott einen guten Mann und Fünfe gerade sein lassen. Das ist München. Und wir können sehr grantig werden, wenn man uns etwas davon nehmen will. Denken Sie nur an die Biergartenrevolution vor 30 Jahren, als rund 25.000 Münchner bei einer Demonstration für den Erhalt der Biergartenkultur auf die Straße gegangen sind.
München wird gerne als Welthauptstadt des Bieres bezeichnet.
Wir haben so viel mehr an Geschichte zu bieten als andere Bierstädte. Ich kann Ihnen gerade hier in der Altstadt an fast jeder Ecke etwas erzählen zum Thema Bier. Die erste Brauerei, die Augustiner-Brauerei, wurde bereits 1328 gegründet an der Neuhauser Straße, heute Fußgängerzone, die nächste 1417, die Hacker-Braustätte an der Sendlinger Straße. Dann das Münchner Reinheitsgebot von 1487. Wir haben jetzt noch sechs von ehemals 56 historisch gewachsenen Brauereien. Früher stand in fast jeder Straße eine; man kann es heute noch erkennen. Seit ein paar Jahren sind wieder viele kleine Brauereien entstanden, das erweitert noch das Bild.
Dann hat das Brauwesen die Stadt ganz bedeutend geprägt?
Die Brauereien waren und sind wichtige Arbeitgeber und das Münchner Braugewerbe war immer eng mit der Wirtschaft und Kultur der Stadt verbunden. Und unsere Gäste? Natürlich schauen die sich die Vier Apostel in der Alten Pinakothek an, aber danach wollen sie vor allem auch wissen, wo man gut essen kann und wo der nächste schöne Biergarten liegt.
Es gab ja sogar Verbindungen vom Brauwesen zur Münchner Oper.
Ja die gab es es. Nehmen wir den Richard Strauss, den Komponisten. Zeit seines Lebens wurde er großzügig von seiner Familie unterstützt, denn seine Mutter war eine Enkelin des ersten Großbrauers der Stadt, Joseph Pschorr. Aus Dankbarkeit hat Strauss sogar eine Widmung in die Partitur seines „Rosenkavaliers“ geschrieben: „... den lieben Verwandten, der Familie Pschorr in München“. Darüber hinaus war Großvater Pschorr auch sehr sozial und vermachte einen Teil seines Vermögens den Armen-, Waisen- und Krankenhäusern der Stadt. Seine Büste steht in der Ruhmeshalle an der Theresienwiese. Das Familiengrab befindet sich auf dem Alten Südfriedhof an der Thalkirchner Straße. Anderes Beispiel: Der Bierpfennig, eine Biersteuer, die die Münchner bezahlten, um das 1823 völlig ausgebrannte Nationaltheater wieder aufzubauen.
Als Vizepräsident des Festrings sind Sie noch immer verantwortlich für die beiden traditionellen Umzüge am ersten Oktoberfest-Wochenende, den Einzug der Brauereien und Festwirte und den Trachten- und Schützenzug. Was sind da für Sie die schönsten Momente?
Der schönste Moment ist für mich immer wieder der, wenn alles vorbei und gut gelaufen ist. Wenn der Bürgermeister pünktlich zum Anstich ins Zelt gekommen ist und es keine Unfälle gegeben hat. Mit den Umzügen ist es ja nicht so, dass man sagt, kommen Sie bitte her, steigen Sie ein, wir fahren los. Wir arbeiten ein ganzes Jahr lang darauf hin, dass diese Festzüge reibungslos hinhauen.
Was kann denn schieflaufen?
Wir haben viele Auflagen zu berücksichtigen, und nicht selten tritt etwas Unvorhergesehenes ein. Notarzteinsätze zum Beispiel. Einmal vermisste der Kutscher des Zehnerzugs (Anm. d. Red.: Kutsche mit zehn Pferden) kurz vor Beginn des Trachten- und Schützenzuges seine Zügel, seine Frau war versehentlich damit am Vortag nach Hause gefahren. Die Frau wurde geweckt, die Zügel im Eiltempo zurückgebracht, die Pferde in letzter Minute aufgezäumt. Mit Hilfe der Polizei kam der Zehnerzug dann gerade noch rechtzeitig zum Aufstellungsort.
„Mit den Umzügen ist es ja nicht so, dass man sagt, kommen Sie bitte her, steigen Sie ein, wir fahren los. Wir arbeiten ein ganzes Jahr lang darauf hin, dass diese Festzüge reibungslos hinhauen.“
Es geht schon bei der Aufstellung der Züge in den frühen Morgenstunden los. Wir müssen die Kutschen beim Einzug der Brauereien und Festwirte in der Reihenfolge aufstellen, wie sie dann auf der Festwiese einfahren. Jetzt kommen die Leute aber zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Irgendwann stehen endlich alle in Reih und Glied, und wenn ich dann von meinem Hauptzugleiter das „Go“ kriege, dann gehen wir los. Es ist aber auch schon passiert, dass der Hauptzugleiter nicht gleich da war, oder dass sich das Münchner Kindl beim Trachten- und Schützenzug verspätet hat. War alles schon da.
Wer führt denn jetzt den Einzug der Brauereien und Festwirte und den Trachten- und Schützenzug eigentlich an, das Münchner Kindl oder Sie ?
Natürlich das Münchner Kindl auf seinem Pferd! Aber tatsächlich fahre ich den Festzügen, sobald sie sich in Bewegung gesetzt haben, auf meiner Vespa voraus und suche die Strecke ab, ob da noch etwas im Wege ist. Beim Einzug der Brauereien und Festwirte bin ich dann der erste, der auf der Wiesn einfährt. Mit dem Anstich ist es im Übrigen nicht vorbei, sondern erst, wenn alle wieder wohlbehalten vom Gelände runter sind. Wenn alles geklappt hat, und ich komme dann raus und gehe zu meinem obersten Boss, dem Präsidenten beim Festring, und sage: „Alles ist paletti“, und der sagt: „Hock di her, trink a Bier“, dann erst fällt die ganze Anspannung von mir ab.
Jetzt haben wir noch wenig über das Münchner Bier an sich gesprochen. Man hört, die Umsätze gehen zurück. Gerade bei den Jüngeren. Befürchten Sie, dass Bier aus der Mode kommt?
Ich glaube nicht. Früher war Bier einfach ein Getränk, jetzt wird es wieder mehr zelebriert. Es wird weniger, aber dafür bewusster konsumiert. Die klassischen Biertrinker, den Stammtisch am Sonntagvormittag, den gibt es so nicht mehr. Und die jungen Leute haben einen viel weiteren Horizont als früher. Sie wechseln viel ab bei den Getränken. Die wissen, wo die beste Kneipe in ganz New York ist und wo ich in der Karibik den besten Caipirinha kriege, aber auch, wo man in München das beste Bier bekommt.
„Früher war Bier einfach ein Getränk, jetzt wird es wieder mehr zelebriert. Es wird weniger, aber dafür bewusster konsumiert.“
Hat das veränderte Trinkverhalten auch etwas mit der noch relativ jungen Craft-Beer-Szene in der Stadt zu tun?
Ja, die Craft-Beer-Szene hat frischen Wind ins Brauwesen gebracht. Der Fokus liegt beim Bier wieder mehr auf Genuss und Geschmack und das Herausschmecken von Nuancen. Sie haben vielleicht auch festgestellt, dass jetzt in vielen Gaststätten eine Bierbeschreibung angeboten wird. Da steht dann drauf, zu welchem Essen welches Bier empfohlen wird. Food Pairing ist jetzt ein großes Thema. Sie können in München zu jedem Essen das richtige Bier finden, denn wir haben die große Vielfalt. Wir haben alkoholfreie Biere, wir haben Starkbiere, und alles dazwischen: Dunkles, Helles, Weißbier. Ich weiß, ich gerate wieder mal ins Schwelgen, aber für mich sind die guten Münchner Biere ein Lebenselixier. Ein Hochgenuss. Egal von welcher Brauerei.
Bevor ich mich herzlich für dieses interessante Gespräch bedanke, möchten Sie den Bierfans unter unseren Gästen noch etwas mit auf den Weg geben?
Genießen Sie das Bier bewusst und scheuen Sie sich nicht, auch mal eine andere Münchner Biermarke zu nehmen und auch mal eine andere Münchner Biersorte zu testen. Probieren sie einfach durch. Unser Bier ist eine richtige Erlebniswelt.
Manfred Newrzella wurde in München geboren und wuchs in Schwabing auf. In den 1980er-Jahren studierte er Jura an der Ludwig-Maximilians-Universität in der Maxvorstadt. Bevor er als Justiziar zur Tucher-Brauerei nach Nürnberg wechselte, arbeitete er noch ein Jahr in München als Anwalt. Viele Jahre war Newrzella dann in München Geschäftsführer vom Verein Münchner Brauereien e.V., vom Bayerischen Brauerbund und vom Festring München e.V. Der Festring hat sich die Pflege und Wahrung des Münchner und bayerischen Brauchtums auf die Fahnen geschrieben. Als Vizepräsident ist Manfred Newrzella dort nach wie vor verantwortlich für den traditionellen Einzug der Brauereien und Festwirte, sowie den Trachten- und Schützenzug zur Eröffnung des Oktoberfests. Zu den Aufgaben des Vereins zählen ferner die Organisation des Traditionszeltes auf der Oidn Wiesn, die Ernennung des „Münchner Kindls“ – von 2010 bis 2014 war Newrzellas Tochter Maria Münchner Kindl – sowie weitere Brauchtumsveranstaltungen wie der Boarische Lenz, das Fest der Blasmusik und Tracht und das vorweihnachtliche Adventssingen „Advent in den Bergen“.