In München leben viele Schriftsteller*innen, die einen ganz besonderen Bezug zur Stadt haben. Unsere Redakteurin möchte wissen, welchen Einfluss München auf ihr Schaffen hat. Diesmal: Annegret Liepold, die sich in ihrem Debütroman einem harten, aber wichtigen Thema annimmt.
An einem klirrend kalten Dezembertag schlüpfen Annegret Liepold und ich durch die Eingangstür hinein ins Hildebrandhaus – einer imposanten Villa mit Garten, in der die Monacensia zuhause ist. Die Monacensia, das ist das literarische Gedächtnis Münchens, welches mit Literaturarchiv, Bibliothek und Museum leseaffine Menschen anlockt. Ein passender Ausgangspunkt für unseren Spaziergang, denn die Autorin hatte hier im vergangenen Sommer eine Schreibresidenz inne. Im Rahmen dessen arbeitete sie an ihrem ersten Roman, kuratierte Veranstaltungen und lud zu Begegnungen mit anderen Schreibenden ein. Die Mona und Anne, das passt gut, denke ich, als wir uns im ersten Stock auf ein Sofa fallen lassen. Schließlich versteht sich das städtische Archiv als ein Ort, an dem das gesammelt wird, was in der Zukunft einmal Erinnerung sein wird. Und genau diese Klammer findet sich auch in Liepolds Debütroman „Unter Grund“ wieder, der im Februar 2025 erscheint.
„Es geht um eine junge Frau, die im Franken der Nullerjahre in die rechte Szene einsteigt“, beginnt Liepold erzählen. „Zehn Jahre später kehrt die Protagonistin dorthin zurück, um das Geschehene aufzuarbeiten. Ich gehe der Frage nach, wie rechte Strukturen auf dem fränkischen Land funktionieren.“ Die Autorin stammt aus Nürnberg und beschäftigte sich mit der Tatsache, dass in ihrer Heimat die jüdischen Friedhöfe geschändet wurden. Auf die Frage, welchen Herausforderungen sie sich bei diesem Projekt stellen musste, antwortet sie: „Mir war bewusst, dass ich nur aus der Perspektive schreiben kann, aus der ich selbst komme: von Nazi-Großeltern.“ Eine Klarheit, die mich sofort trifft. „Sobald man radikalisiert ist, weiß man gar nicht, wie es dazu kam, weil man in der Ideologie drinsteckt. Aber am Anfang steht ja ein ganz diffuses Gefühl von Wut, von einem Wunsch nach Zugehörigkeit.“
Die Monacensia, das ist das literarische Gedächtnis Münchens, welches mit Literaturarchiv, Bibliothek und Museum leseaffine Menschen anlockt.
Für diese emotionale Spurensuche wurde die Autorin mit dem Literaturstipendium der Stadt München ausgezeichnet. Doch vor dem Erfolg stand, wie bei so vielen Schreibenden, das Zweifeln im Zentrum. Nach dem Abitur wollte die Autorin gar nicht nach München, sondern ans Leipziger Literaturinstitut – überhaupt sollte es eine der renommierten Schreibschulen sein. Sie hatte das Gefühl, dass ihr jemand sagen müsse, dass sie das kann mit dem Schreiben. Und dass sie das auch machen darf. „Bis ich gemerkt habe, dass ich es mir selbst erlauben muss“, resümiert sie heute und ich denke: Glücklicherweise hat sie sich dieses Geschenk gemacht.
Schließlich zog es Liepold doch in den Süden, um an der LMU in München Komparatistik und Politikwissenschaft zu studieren. Danach bewarb sie sich bei der Bayerischen Akademie des Schreibens. Wenn sie nicht ihre eigenen Geschichten formt, ist ihr Arbeitsplatz das Münchner Literaturhaus. Hier stehen Seminarplanungen mit Autor*innen im Vordergrund, es gibt Kurse für Studierende, Jugendliche und Menschen, die einfach ihrer Kreativität nachspüren wollen. „Zu den Kursen kann auch jemand kommen, der Physik studiert und sich mit dem Schreiben beschäftigen will.“ Sie grinst. „Quasi berufsbegleitend.“ Ein Highlight aus den letzten Jahren in diesem Kosmos? „Die Münchner Schiene“, schießt Liepold hervor. Eine Veranstaltung, die erst seit 2022 im Rahmen des Literaturfests stattfindet; sie knipst das Licht über der jungen Literatur Münchens an und lädt zum Mitmachen ein. „Als gefühlt die ganze Szene im Haus zusammenkam, hat alles vibriert“, erinnert sich die Autorin. „Die Atmosphäre fühlte sich an wie ein Bienenschwarm, das war total schön.“
Am Tresen der Favorit Bar bestellt sie gerne Gin Tonic und lauscht der jeweiligen Veranstaltung oder Diskussion. Sie findet: „München kann literarisch sehr viel!“
Wir verlassen das Hildebrandhaus und machen einen Spaziergang durch die Maximiliansanlagen, um zum Bogenhausener Friedhof zu gelangen. Ein Ort, den die Autorin ausgesucht hat, weil sie erst kürzlich erfuhr, wie viele Künstler*innen dort begraben liegen. „Ich bin gerne auf Friedhöfen, weil mich beschäftigt: Wie wird privat getrauert, wie kollektiv? Es muss diese Orte geben, an denen man trauern kann, aber auch gleichzeitig das Leben weiter stattfindet.“
Vielleicht ist es deshalb nicht nur interessant, sich die teils verwachsenen und dadurch so verwunschenen Gräber von Oskar Maria Graf, Liesl Karlstadt, Walter Sedlmayr oder Bernd Eichinger anzusehen, sondern auch die Menschen, die hierherkommen. Sie legen kleine Andenken nieder, pflegen Blumen, trauern – und leben. Der kleine Friedhof mit der spätbarocken Kirche wurde schon im 9. Jahrhundert angelegt. Mit seiner idyllischen Lage am Isarhochufer zieht er auch an einem so tristen Wintertag wie heute Menschen an, die die Köpfe über dem Grab von Erich Kästner zusammenstecken. Wir gehen an ihnen vorbei und stehen plötzlich vor Helmut Fischers letzter Ruhestätte, dessen Rolle als Monaco Franze bis heute Kultstatus genießt.
Auf dem Weg zur Tram, die uns in die Altstadt bringt, frage ich Annegret, ob sie noch andere historische Spaziergänge empfehlen kann. „Vom Königsplatz zur Drückebergergasse. Das ist ein guter Geschichtsspaziergang (Nähere Informationen siehe Infokasten).” Nur einen Katzensprung von dort entfernt, findet man auch das Literaturhaus, wo wir uns in der Brasserie Oskar Maria aufwärmen mit Risotto und Orecchiette.
Apropos Oskar: Liepolds Tipp, um sich literarisch auf München vorzubereiten, ist Grafs eindrücklicher Roman „Wir sind Gefangene“, in dem er seine Erlebnisse während der Räterepublik und die damaligen Straßenkämpfe schildert. „Weil die Nazis ab den 1920ern so dominant waren, vergisst man schnell, dass es auch starke linke Strömungen gab. Und diese Aufbruchsstimmung mit ihrem künstlerischen Kern.“ Wir sprechen auch über die kaum vorstellbare Gleichzeitigkeit, als Graf und Hitler beide in den 1920ern im Schelling-Salon ein- und ausgegangen sind. Und während sich im Alten Simpl nur wenige Gehminuten entfernt die Bohème traf, befand sich 300 Meter entfernt die erste NSDAP-Geschäftsstelle in der Schellingstraße 50.
Wir schweigen einen Moment, dann frage ich sie, wo sie heute hingeht, um Gegenwartsliteratur zu erleben, die etwas in ihr bewegt. Für Lyrik besucht Liepold regelmäßig die Lesereihe LIX im HochX-Theater, die „3 lyrischen Ichs“ oder das Lyrikkabinett. „In der Buchhandlung Rauch und König finden tolle Lesungen statt, genauso wie im Theater Heppel & Ettlich und im habibi Kiosk.“ Am Tresen der Favorit Bar bestellt sie gerne Gin Tonic und lauscht der jeweiligen Veranstaltung oder Diskussion. Sie findet: „München kann literarisch sehr viel!“
Als wir uns verabschieden, möchte ich wissen, wie es ihr geht, so kurz vor der Veröffentlichung ihres Romans. „Es ist schön und schrecklich zugleich“, lacht sie und wir springen noch einmal an den Anfang zurück, als sie sich die Erlaubnis zum Schreiben selbst gegeben hat. „Oder meinst du eher die Erlaubnis zum Veröffentlichen?“, hake ich nach und sie überlegt. „Ja, wahrscheinlich geht es immer um das Schreiben, mit dem man sich nach außen zeigt.“
Was ich bei dem Prozess beobachte, ist eine Autorin, die sich nicht scheut vor der Verantwortung, die in ihrem Text liegt. Und die im literarischen Kern ihrer Stadt zuhause ist.