München wird durch kaum ein anderes Baumaterial so stark geprägt wie durch Backstein. Wenn man einmal darauf achtet, fällt es auf. Von der Frauenkirche über den Gasteig, von der Augustiner-Brauerei bis hin zum neuen Volkstheater: Münchens rote Fassaden sind überall sichtbar. Doch was hat es damit eigentlich auf sich?
Es gibt eine architektonische Besonderheit der bayerischen Landeshauptstadt, mit der man selbst Einheimische, die die Stadt wie ihre Westentasche zu kennen glauben, zuverlässig verblüffen kann: Mit dem Hinweis darauf, wie viele – ganz gewöhnliche, bekannte und sogar architekturhistorisch bedeutende – ältere und jüngere Gebäude der Stadt aus Backstein bestehen. Der rötliche, unverputzte Mauerziegel aus Lehm gilt hierzulande eigentlich als typisch norddeutscher, „preußischer“ Baustoff.
Wer einmal die Backstein-Brille aufgesetzt hat, sieht es trotz der unübersehbaren architektonische Prägung der Stadt durch die verputzte Pracht des Barock überall: das erste, 1929 erbaute Hochhaus der Stadt an der Blumenstraße etwa, den Alten Südfriedhof in der Isarvorstadt, den Alten Israelitischen Friedhof in Thalkirchen, sämtliche noch erhaltenen Gebäude der Isartalbahn, darunter die jüngst aufwendig restaurierten Betriebsgebäude neben dem Maria-Einsiedel-Freibad, den Schäfflerhof am Marienhof, die gesamte Nordseite des Rathauses, das von Theodor Fischer entworfene und 1927 fertiggestellte Ledigenwohnheim im Westend oder auch das elegant-kantige Backsteinwohnhaus am Max-Weber-Platz mit den niedlichen angetäuschten Hogwarts-Erkern.
Und dann sind da ja noch die weltberühmten Sehenswürdigkeiten der Stadt aus Backstein: das Sendlinger Tor, Klenzes Alte Pinakothek, der bei seiner Eröffnung 1836 größte Museumsbau der Welt, die wuchtige Staatsbibliothek an der Ludwigstraße und natürlich die Frauenkirche, der 1468 begonnene sakrale Ziegel-Mutterbau Münchens, ikonisches Prachtgebäude der Hochgotik und Vorbild für so viele Kirchen der Stadt.
Die Ziegeltradition ist in München dabei keine architekturästhetische Laune. Sie hat einen handfesten geologischen Grund. Lehm war in der Gegend leicht verfügbar. Gleich zwei große Stadtteile tragen den Lehm im Namen: Laim im Westen und Berg am Laim im Osten. Im Falle Berg am Laims taucht der Zusatz „am Laim“ urkundlich erstmals 1430 auf.
In München florierte dementsprechend einst die Ziegelindustrie. Von Giesing über Berg am Laim bis nach Ismaning zog sich östlich der Isar eine einen Kilometer breite und etwa 20 Kilometer lange Lösslehmzunge durch die Münchner Schotterebene. Große Teile der Stadtmauern und der Gebäude der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Innenstadt wurden aus Ziegeln erbaut.
Ziegeleien und Lehmgruben gehörten jahrhundertelang ganz selbstverständlich zum Ortsbild von Haidhausen, Ramersdorf, Bogenhausen, Englschalking oder Oberföhring: „Ohne an Lehm daat’s München ned geb’n“, hieß es im Volksmund. Erst um 1900 gingen die natürlichen Lehmvorkommen der Stadt schließlich zu Neige.
Es ist guter Brauch der modernen Architektur, insbesondere bei repräsentativen öffentlichen Gebäuden, die Baugeschichte des Ortes, an dem ein neues Gebäude entstehen soll, mitzudenken. Kein Zufall war es also, dass das größte Kulturzentrum der Stadt, der 1985 fertiggestellte Haidhausener Gasteig samt dem großen Konzertsaal der Münchner Philharmoniker, ein Backsteinbau wurde.
Von Mies van der Rohe ist der Satz überliefert, dass Architektur beginne, „wenn zwei Backsteine sorgfältig zusammengesetzt werden“.
Das neue Volkstheater zeigt hingegen, wie modern der Ziegel bei öffentlichen Bauten daherkommen kann: Auf dem ehemaligen Viehhof entstand das Kulturhaus mitten im rauen Schlachthofviertel. Mit seiner äußeren Hülle aus Backstein lehnt es sich an seine Umgebung an – zum Theater gehören nämlich auch einige denkmalgeschützte Ziegelbauten in der Umgebung. Aus der Mitte ragt der fast 30 Meter hohe, weiße Bühnenturm, der beinahe zerbrechlich scheint und damit einen Kontrast zu den massiven Ziegelmauern bildet. Der Architekt Arno Lederer ließ sich bei der Planung dieser Hülle tatsächlich von einem Damenstrumpf inspirieren.
Spricht man mit historisch umsichtigen jüngeren Architekten der Stadt wie Alexander Fthenakis, der auch einen viel beachteten Instagram-Architektur-Account betreibt und zuletzt eine Architektur-Gastprofessur an der Technischen Universität innehatte, kommt das Gespräch auch bald auf den Wiederaufbau der Alten Pinakothek durch Hans Döllgast in den Jahren 1952 bis 1957. Döllgast restaurierte den von Bombeneinschlägen schwer gezeichneten Bau mit den Backsteinen aus anderen zerstörten Gebäuden der Maxvorstadt so, dass die Geschichte der Zerstörung des Hauses sichtbar blieb.
„Kein Baustoff“, so Fthenakis, „eignet sich für eine solche Idee“ – die bis heute als wegweisende Pioniertat der historisch-kritischen Denkmalpflege gilt – „so gut wie Backstein.“ Von Mies van der Rohe ist der Satz überliefert, dass Architektur beginne, „wenn zwei Backsteine sorgfältig zusammengesetzt werden“. Tatsächlich leuchtet auch Nichtfachleuten bei keinem verarbeiteten Baumaterial Natürlichkeit und menschliche Handlichkeit so unmittelbar ein.
Einen durchschnittlichen Backstein kann ein Mensch problemlos in einer Hand halten, er fühlt sich warm an und irgendwie vertraut. Die Herstellung ist nicht kompliziert, letztlich wird bloß ein Lehm-Wasser-Gemisch in Formen gepresst, getrocknet und schließlich bei 900 Grad gebrannt, damit der Ziegel wasserfest ist. Er dämmt die Wärme gut, ist außergewöhnlich haltbar, leicht zu transportieren und zu stapeln: „Im Grunde verkörpert er idealtypisch die Urform des flexiblen, menschlichen Bedürfnissen optimal angepassten, modularen Bauens“, sagt Fthenakis.
Gerade in Zeiten, in denen die Nachhaltigkeit auch und gerade des Bauens so dringend nötig ist, entpuppt sich so ein uralter Baustoff als hochmodern.
Gerade in Zeiten, in denen die Nachhaltigkeit auch und gerade des Bauens so dringend nötig ist, entpuppt sich so ein uralter Baustoff als hochmodern. Und die bauliche Vergangenheit der Stadt München weist direkt in die Zukunft. Vielleicht ist der Tag ja näher, als man denkt, an dem es heißen wird: Ohne Lehm WIRD’S München ned geb’n.